Gott ist verborgen

Verborgenheit Gottes: auf der Suche nach dem Unsichtbaren

Warum verbirgt sich Gott? Ist es nicht bemerkenswert? Einerseits ist Gott das größte, mächtigste, älteste Wesen – andererseits ist er gar nicht zu sehen.

Die Verborgenheit Gottes ist ein echtes Problem, und ich erinnere mich noch gut daran, wie es mir schon als Kind merkwürdig vorkam: Weil alle zwar ständig von Gottes großen Taten und seiner Herrlichkeit sprachen – aber mit welchem Recht? Denn mit eigenen Augen gesehen hat ihn ja offenkundig in letzter Zeit niemand.

Gott zeigt sich nicht

Ähnlich wie bei der Theodizee fragt man sich: Warum macht Gott das? Warum lässt er uns im Dunkeln tappen und fordert uns quasi dazu auf, sein größtes Geschenk – unseren Verstand – in einer grotesken Schleife ins Leere laufen zu lassen?

Verborgenheit Gottes
Warum entzieht sich Gott der Welt?

Denn rational – so viel steht fest – lässt sich die Verborgenheit Gottes nicht erklären. Rational betrachtet, würde man folgenden Schluss ziehen: 

Die Welt zeigt sich so, als ob es keinen Gott gibt. Er erscheint nirgendwo und greift nirgendwo ein. Also müssen wir davon ausgehen, dass es ihn nicht gibt. 

Und das ist die Kernaussage des modernen oder „neuen“ Atheismus.

Ist das Gerede vom verborgenen Gott einfach Quatsch?

In einer Welt voller greifbarer Beweise und wissenschaftlicher Erklärungen kann es schwierig sein, das Unfassbare und Unsichtbare zu begreifen. Weil es eben unsichtbar ist. 

Für viele, die sich mit den „nackten“ Tatsachen des Materialismus und Positivismus nicht zufriedengeben (wollen), beginnt in diesem Bereich des Unsichtbaren eine spirituelle Suche. Eine Suche nach dem Numinosen, nach dem Transzendenten, nach dem Durchscheinen Gottes in kleinen Hinweisen, luziden Träumen oder gar schizophrenen Episoden?

Versuchen wir’s mal logisch, auch wenn das im religiösen Kontext ungewohnt ist. Erkunden wir, warum die rätselhafte Natur Gottes Gründe für seine Verborgenheit haben mag. Und wie er sich vielleicht doch in unserem Leben manifestiert. Und zwar eindeutiger, als als Jesusfigur in den Wolken oder auf verbranntem Toast.

Verborgenheit Gottes
Gottes Wege sind unergründlich

Der verborgene Gott nach John L. Schellenberg

Traditionell haben Theisten behauptet, dass Gott verborgen ist, um die Tatsache zu erklären, dass die Beweise für seine Existenz („Gottesbeweise“) so schwach sind. Neu entfacht wurde die Diskussion im Jahr 1993 vom kanadischen Philosophen John L. Schellenberg.

Verborgenheit Gottes (The Hiddenness Argument: Philosophy's New Challenge to Belief in God)
Der Stein des Anstoßes
(klicke auf das Cover für mehr Infos)

Denn eigentlich klingt das ja nach einer faulen Ausrede: Du kannst Gott nicht sehen. Auch wenn du es dir so wünschst. Auch wenn der gesamten Menschheit mit dieser metaphysischen Klarheit geholfen wäre, ja, das Potenzial hätte, die Menschen weltweit zu vereinen. Ein einziges Erscheinen würde doch reichen: vor laufenden Kameras beim Superbowl-Finale oder auf dem Petersplatz oder in einer voll besetzten Çamlıca-Moschee.

Stattdessen verbirgt Gott sich, aber warum? Will er sich nicht zeigen oder kann er sich nicht zeigen? Oder gibt es ihn einfach nicht?

„Divine Hiddenness and Human Reason”

In seinem gut zu lesenden religionsphilosophischen Beitrag „Divine Hiddenness and Human Reason” behandelt J. L. Schellenberg ein grundlegendes, jedoch vernachlässigtes religiöses Problem. 

Wenn es einen Gott gibt, fragt er, warum ist seine Existenz nicht offensichtlicher?

Schellenbergs Argument zur Verborgenheit Gottes

Nach Schellenberg ist die Behauptung der „Verborgenheit Gottes“ angesichts des Verständnisses von Gottes moralischem Charakter, dem sich Theisten verpflichtet fühlen, ernsthaft in Schwierigkeiten. Dementsprechend setzt sich die Diskussion über Schellenbergs Argument bis heute in wissenschaftlichen Zeitschriften, Anthologien, anderen Büchern und auch online fort. Vorwiegend zwar im anglophonen Raum, aber so langsam schwappt das Problem denn auch ins Deutsche.

Schellenberg schreibt, es gebe Gründe zu der Annahme, dass der vollkommen liebende Gott des Theismus nicht verborgen wäre. Sondern, dass ein solcher Gott die Tatsache seiner Existenz über vernünftigen Unglauben stellen würde. Da vernünftiger Unglaube jedoch existiert, argumentiert Schellenberg, folgt daraus, dass hier ein Argument von erheblicher Kraft für den Atheismus vorliegt.

Gottes Verborgenheit einfach erklärt

In anderen Worten: Gott wird als vollkommenes persönliches Wesen aufgefasst. Er könnte nicht weniger als „vollkommen liebend“ sein, manche sprechen auch von „allgütig“. Ein solcher vollkommen liebender Gott wäre immer offen für eine bedeutungsvolle, bewusste Beziehung mit endlichen Personen, die in der Lage sind, an einer solchen Beziehung teilzunehmen (und sie nicht ablehnen). 

Dies impliziert: Wenn es einen Gott gibt, ist jede endliche Person, die diese Beschreibung erfüllt, in der Lage, Teil einer solchen Beziehung zu sein. Das kann jedoch nicht der Fall sein, es sei denn, jeder, der diese Beschreibung erfüllt, glaubt, dass Gott existiert (denn um eine bewusste Beziehung zu jemandem zu haben, muss man glauben, dass derjenige oder diejenige existiert). 

Daraus folgt: Wenn es einen Gott gibt, kann es niemanden geben, der die Beschreibung erfüllt und nicht glaubt, dass Gott existiert. Es gibt dann keine „widerstandslosen Nichtgläubigen“. Aber die gibt es in freier Wildbahn sehr wohl. Die logische Konsequenz: Dann kann es eben keinen Gott geben.

Verborgenheit Gottes
So wenig verborgen zeigt Gott sich nie

Bei der Entwicklung seiner These untersucht Schellenberg sorgfältig die relevanten Ansichten von Theisten wie Pascal, Butler, Kierkegaard, Hick und anderen. Er sichtet ihre Vorschläge hinsichtlich der göttlichen Verborgenheit und zeigt, wie sie es versäumen, eine Widerlegung für das von ihm präsentierte Argument zu liefern. 

Dieses Argument, schließt er, stellt eine ernsthafte Herausforderung für den Theismus dar, der von zeitgenössischen Theisten beantwortet werden muss.

„God’s Hiddenness“: Warum verbirgt sich Gott?

Das Konzept der Verborgenheit Gottes ist damit zu einem umstrittenen Thema der theologischen Diskussion geworden. Es gibt verschiedene Ansichten und Interpretationen darüber, warum Gott sich verbirgt und warum wir die unsichtbare Natur seiner Existenz nicht direkt wahrnehmen können. 

Einige theologische Perspektiven argumentieren, dass Gottes Verborgenheit eine Prüfung des Glaubens ist und dass wir durch unseren Glauben an seine Existenz und Führung wachsen und reifen. 

Andere argumentieren, dass Gottes Verborgenheit eine Möglichkeit ist, unsere Abhängigkeit von ihm zu erkennen und uns zu ermutigen, nach ihm zu suchen und eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen.

Theologische Perspektiven auf die Verborgenheit Gottes 

Verschiedene theologische Perspektiven bieten Erklärungen für die Verborgenheit Gottes. Einige argumentieren, dass Gottes Verborgenheit notwendig ist, um unseren freien Willen zu respektieren. Wenn Gott sich offenbaren würde, würde dies unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und unseren Glauben zu entwickeln, beeinflussen.

„Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland“

Diese Bibelstelle (Jesaja 45,15) gibt es tatsächlich. Christlichen Apologeten dient sie dazu, in einer bemerkenswerten Dialektik gerade aus der Verborgenheit Gottes noch eine Tugend zu machen: „In seiner Verborgenheit ist und bleibt Gott der Heiland und Retter seiner Leute.“ 

Ach so, ja dann.

Nimmt man dieses Argument ernst, muss man die Verborgenheit Gottes selbst als Beweis für seine Existenz deuten. Dass wir das Göttliche nicht direkt wahrnehmen können, deutet schließlich darauf hin, dass ein höheres Wesen existiert, das sich bewusst verbirgt. 

Das Problem hier: Ich könnte das gleiche auch von allen möglichen anderen unsichtbaren „mächtigen“ Geistwesen behaupten: Kobolden, Einhörnern und so weiter. Sicherlich fänden es die allermeisten Menschen intuitiv höchst problematisch zu denken, dass deren Abwesenheit als Beweis für ihre Existenz gedeutet werden könne.

Verlassen wie weiland der Heiland: Sind wir nicht alle ein bisschen Jesus?

Ein anderer Aspekt: Standen die Jünger und Jesus selbst nicht auch vor derselben Frage, vor derselben Abwesenheit? Fragte Jesus nicht sogar wortwörtlich, warum sein Vater ihn „verlassen“ habe? 

Uns geht es also auch so ein bisschen wie dem Messias und den Jüngern. Dürfen wir uns dadurch mit ihnen nicht auch noch etwas verbunden fühlen? Und fühlt sich das nicht auch ein kleines Bisschen gut im christlichen Selbstbewusstsein an, dass jeder ein wenig verlassen sein darf wie weiland der Heiland?

Gott als Herausforderung

Andere sehen in der Abwesenheit Gottes die „Chance zu wachsen“: Eine Chance, gegen die eigene Wahrnehmung und wider besseres Wissen zu glauben, dass da doch noch jemand ist, der meine Gebete erhört und vielleicht mein krankes Kind heilt.

Man solle den verborgenen Gott „aushalten“.

Das ist natürlich ein Win-win für den Glauben:

  • Erhört „Gott“ meine Gebete, ist seine wundersame Kraft bestätigt, halleluja!
  • Erhört er sie hingegen nicht, ist das nur Zeichen weiterer Prüfung und mystischer Verborgenheit.

Egal, wie man’s wendet: Es wird immer der Glaube “bestätigt”. 

Verborgenheit Gottes

Welch famoser dialektischer Zug: Gott verlangt von dir perfekte Kontrolle und Selbstaufgabe – er ist zwar verborgen, aber praktischerweise wird das ja von ganz irdischen Vertretern überprüft und eingefordert.

Verborgenheit Gottes
Könnte Gott das nicht selbst erledigen?

Offenbarung und Verborgenheit

Davon sprechen doch Tanach, Bibel, und Koran: Gott offenbart sich dem Abraham und den ganzen anderen Propheten.

War das wirklich so? Wir wissen nichts Direktes darüber und haben nur die Aufzeichnungen eines Hirtenvolkes, das an der Schwelle zur Sesshaftwerdung und zum Schrifttum von einem Götzen zum nächsten Gott taumelte. 

Aber Moment: Hat sich Gott nicht längst gezeigt? Am Berge Sinai, im brennenden Busch, durch schizophrene Episoden, äh, Erscheinungen von Engeln von Angehörigen einer primitiven Nomadenkultur, durch Parteinahme in Kriegszügen, durch die Anordnung von Völkermorden?

Das war vor zweieinhalbtausend Jahren – in einer Kultur, in der man keine Wissenschaft betrieb, nichts über den Kosmos wusste, Krankheiten nicht verstand, kaum schreiben konnte und an Hexerei glaubte.

Und dann die Offenbarung. Als brennender Busch.

Verborgenheit Gottes
Offenbarung oder Wahnvorstellung? Der „brennende Dornbusch“

Warum erschien Gott nicht zu einem anderen Zeitpunkt? 

An einem anderen Ort, zum Beispiel in China, wo „Leute schon lesen konnten“, wie Hitchens eins fragte.

Verborgenheit Gottes
Gott erschien chronologisch und geographisch recht limitiert

Warum erscheint er nicht ständig?

Gründe für Gottes Verborgenheit

Warum also verbirgt Gott sich, was soll dieses Versteckspiel? 

Ein Grund könnte sein, so eine Argumentation, dass die direkte Erfahrung seiner Existenz unseren freien Willen beeinträchtigen würde. Gott möchte, dass wir aus freiem Willen an ihn glauben und uns für eine Beziehung zu ihm entscheiden. Entscheide selbst, inwiefern das logisch klingt.

Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass Gottes Verborgenheit uns dazu ermutigen soll, nach ihm zu suchen und unsere spirituelle Reise fortzusetzen. Durch die Suche nach dem Unsichtbaren können wir unseren Glauben stärken und eine tiefere Verbindung mit dem Göttlichen finden. 

Es ist auch möglich, dass Gott sich verbirgt, um uns zu prüfen und uns zu ermutigen, unsere Abhängigkeit von „Ihm“ zu erkennen. Indem wir uns mit der Verborgenheit Gottes auseinandersetzen, können wir unser Vertrauen in seine Führung entwickeln und wachsen.

Verborgenheit Gottes
Ein echtes Problem!

Die Rolle des Glaubens bei der Verborgenheit Gottes

Der Glaube spielt eine zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung mit der Verborgenheit Gottes. Wenn Menschen an die Existenz Gottes glauben, obwohl keine direkten Beweise vorliegen, zeigen sie ihren Glauben und ihr Vertrauen in das Unsichtbare.

Der Glaube ermöglicht es ihnen also, die Verborgenheit Gottes zu akzeptieren und sich auf die Suche nach ihm einzulassen. Durch diesen Glauben können manche eine persönliche Beziehung zu Gott aufbauen. Das gibt Halt in einer vieldeutigen Welt.

Was aber, wenn es Gott nun gar nicht gäbe, wenn der Glaube nur eine irregeleitete Suche nach einer Fata Morgana ist, ein Luftschloss, ein Hirngespinst? Wenn man ein Leben lang mit einer Lüge, mit falscher Sicherheit, mit einer Illusion verbracht hätte? 

Der Ausweg des “schlichten” Glaubens scheint mir hier doch etwas zu billig, gemessen an dem, was auf dem Spiel steht: Das gesamte Weltbild und Lebensausrichtung einer Person.

Verborgenheit Gottes
Behaupten lässt sich vieles

Mit der Verborgenheit Gottes umgehen

Der Umgang mit der Verborgenheit Gottes ist nur für diejenigen eine Herausforderung, die glauben wollen. Für Skeptiker, Agnostiker und Atheisten ist dies nichts, was einen aktiven “Umgang” erfordern würde. 

Möglichkeiten für Gläubige erschöpfen sich in der “spirituellen Öffnung” gegenüber dem Unerwarteten, das Loslassen von Erwartungen loszulassen und ähnlich angehauchter Mumbo-Jumbo.

Noch einmal zur Erinnerung: Auch andere Götter als Jahwe sind unsichtbar und unwirksam. Wenn man von seinem Kult nicht direkt betroffen ist, wirkt eine Anhängerschaft deswegen genauso albern wie beispielsweise das Anbeten von Kühen, die Glaubensbekenntnisse kommen als esoterisch verbrämtes “White Noise” daher – nur graduell unterschieden von Kulten wie Voodoo oder dem Mormonentum.

Für viele Gläubige ist es hilfreich, sich über Fragen und Zweifel auszutauschen. Das ermutigt; ein leicht durchschaubarer Trick, der mit der Einbettung in eine Gemeinschaft eines unserer grundlegendsten sozialen Bedürfnisse erfüllt. 

Persönliche Erfahrungen und Reflexionen über die Verborgenheit Gottes

Einige Menschen berichten von tiefen Momenten der Verbindung mit dem Göttlichen, in denen sie die Gegenwart Gottes auf eine tiefe und transformative Weise erfahren haben.

Andere wiederum haben mit Zweifeln und Fragen zu kämpfen und suchen nach Antworten auf die Verborgenheit Gottes.

Dritte hingegen sehen die Abwesenheit von Beweisen für seine Existenz als Beweis für seine Abwesenheit.

Verborgenheit Gottes

Die Verborgenheit Gottes ist ein faszinierendes Thema, das uns dazu einlädt, über unsere spirituelle Reise nachzudenken. 

Für nüchtern denkende Menschen ist sie hingegen mehr als nur ein theologisches Problem: Sie wird (fast) zur Gewissheit darüber, dass wir allein sind und dass es keinen allgegenwärtigen Übervater gibt, der uns tagtäglich beobachtet. Denn ein Gott, der sich seinen “Untertanen” auf solch perfide Weise entzieht, kann nach Schellenberg eben nicht existieren.

Divine Hiddenness and Human Reason (Cornell Studies in the Philosophy of Religion)
Verborgenheit Gottes: Klassische und aktuelle Beiträge aus Theologie und Religionsphilosophie

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