Ein Schutzengel – jemand, der auf dich aufpasst, auch wenn die Umstände mal widrig sind oder du einfach Pech hast. Wäre das nicht schön? Kindern erzählt man das hierzulande ja gerne: „Da hat dein Schutzengel aber gut auf dich aufgepasst!“
Und auch unfassbare 43 Prozent der Erwachsenen glauben Umfragen zufolge an Schutzengel. Aber gibt es Schutzengel wirklich?

„Schutzengel – gibt es die denn, Papa?“
Auch mein Sohn fragte mich einmal, ob es Schutzengel denn gäbe. Also „wirklich“ gäbe. Schutzengel-Figuren gibt es ja zuhauf: Schutzengel aus Holz, aus Stein, aus Metall, aus Papier. Es gibt Schutzengel für Krebskranke, für Männer, für Schüler*innen, für Operationen und fürs Auto. Es gibt Schutzengel bei Amazon, bei eBay und bei AliExpress.
Klar. Aber in der Realität, also so ganz in echt?
Ein tröstender Gedanke, so ein Engel
Natürlich ist das ein schöner Gedanke: Jemand, der auf dich aufpasst. Der in Gefahrensituationen eine schützende Hand über einen hält – wie ein unsichtbarer Elternteil.
Dieser kindliche Wunsch nach Geborgenheit ist vor allem eins, nämlich kindlich. Er sitzt tief – wünscht sich das nicht jede*r? Und ist es nicht gerade auch für Kinder ein wirklicher Trost: Auch wenn ich gerade alleine über die Straße gehe oder vor etwas Angst habe – mein Schutzengel ist da und passt auf mich auf?
Es ist mehr als fraglich, ob man Kindern mit einer solchen Erzählung einen Gefallen tut. Der Schritt zum Fatalismus liegt nahe: Ich kann tun und lassen, was ich will, mein Schutzengel passt ja auf. Auch wenn ich freihändig Fahrrad fahre, auf dem Balkonsims balanciere oder mit dem Inhalt des Messerblocks jongliere.
Wovor schützt ein Schutzengel?
Schützt denn so ein Schutzengel nun? Nein. Das ist natürlich nicht der Fall.
Täglich verunglücken auch Kinder, von Erwachsenen ganz zu schweigen. Täglich erhalten entsetzte Eltern irgendwo die schreckliche Diagnose, dass ihr Kind schwer oder gar unheilbar krank ist, dass es gelähmt ist, dass es behindert ist, dass es sterben wird. Täglich lesen wir von Großbränden, Vulkanausbrüchen, Epidemien, Erdbeben, Erdrutschen, Lawinen, Überschwemmungen, Unwettern und anderen Unfällen mit dutzenden, hunderten oder gar tausenden Verletzten und Toten.
Man darf also ruhig kritisch fragen, wovor genau denn die angeblichen Schutzengel überhaupt schützen. Letztendlich geht es ja immer um das biologische Überleben der Betroffenen. Man würde nicht sagen: „Dein Schutzengel hat dich davor bewahrt, im Zeugnis nur eine 3 in Mathe zu haben.“ Es geht ums Überleben oder ums körperliche Unversehrtheit.
Dann allerdings stellt sich die Frage, wo die Schutzengel an den Katastrophentagen waren.
Schutzengel in Tanach, Bibel und Koran
Ihren Ursprung haben Engel in religiösen Texten. Alle abrahamitischen Religionen beispielsweise kennen Engel. Sie sind meist so eine Art Bote, der Nachrichten von Gott zu den Menschen bringt. Auch das Jesidentum und das Mormonentum kennen Engel.
Schutzengel in der christlichen Tradition
Im Alten Testament werden allerdings nur drei Engel namentlich genannt: Michael, Gabriel und Rafael.
Laut der „Angelologie“ gibt es aber eine Hierarchie der Engel, die in neun „Chöre“ aufgeteilt sind. Im Mittelalter verbreitete sich diese Engellehre durch den Schriftgelehrten Pseudo-Dionysius Areopagita. Thomas von Aquin griff diese Lehre später in seiner „Summe der Theologie“ auf. Nach Thomas sind Engel reine Form ohne Substanz, ihr „Wesen“ ist die Nachricht.
Schutzengel im Islam
Der Islam kennt ebenfalls Engel (Engel = arabisch ملك, malak). Diese dienen der Übermittlung von Offenbarungen an die Propheten.
Nach muslimischer Auslegung des Korans haben alle Muslims zwei Engel an ihrer seiner Seite, die das leben des Menschen quasi protokollieren. Einer hält die schlechten Taten fest, einer die guten (in diesem Sinn sind letztere dann auch Schutzengel, weil sie dafür sorgen, dass die Gläubigen am jüngsten Tag ins Paradies aufgenommen werden).
Zudem gibt es mit den Hafaza vier persönliche Schutzengel für jeden Menschen. Ihre Hauptaufgabe ist die Abwehr von Dschinns und anderen Dämonen.
Wie sieht ein Schutzengel aus?
Engel werden meist als junge Männer oder mannähnliche Wesen beschrieben. Häufig wird betont, dass sie aber kein Geschlecht haben.
„Serafim standen über ihm. Sechs Flügel hatte jeder: Mit zwei Flügeln bedeckte er sein Gesicht, mit zwei bedeckte er seine Füße und mit zwei flog er.“
Jesaja 6,2

Habe ich auch einen Schutzengel?
Die Frage solltest du dir eigentlich nicht mehr stellen, wenn du älter als sechs bist.
Der Klarheit halber: Außer einigen Erwähnungen in Bibel, Koran und Co. gibt es nichts, was auf die tatsächliche Existenz von Engeln hindeutet (siehe auch: Verborgenheit Gottes: auf der Suche nach dem Unsichtbaren oder Gibt es Gott?).
Das gleiche gilt übrigens für die oben erwähnten Dschinn und Dämonen auch (und ebenso für Einhörner, Trolle, Gnome und Elfen).
Ob du deinen Kindern solchen metaphysischen Mumbo-Jumbo auftischen solltest, musst du selbst wissen. Ich halte es für unbedenklich, wenn es nicht dogmatisch wird – die meisten Kinder wachsen ja auch von selbst aus dem Glauben an den Osterhasen und den Weihnachtsmann heraus.
Allerdings denke ich auch, dass die Erzählung von Schutzengeln – von der Frage abgesehen, ob es Schutzengel wirklich gibt – auch eine Normalisierung des Übernatürlichen ist. Nicht unkritisch, denn: Religiöse Systeme wissen dies auch und nutzen die Kraft dieser Erzählungen, um schon die ganz Kleinen zu brainwashen zu beeinflussen. Das Einstiegstürchen zur ontologischen Verwirrung.
Als nächstes kommt dann der Spin, dass Gott als Chef der ganzen Engelschar natürlich auch existiert und genau beobachtet, was du den ganzen Tag machst. Spätestens da hört der „religiöse Spaß mit Kindern“ auf.
Social