Das Jesidentum – die unbekannten Monotheisten

Jesidentum

Was ist das Jesidentum und wer sind die Jesiden? Hat das was mit Jesus zu tun? Wir sehen uns diese wenig bekannte Glaubensgemeinschaft einmal an.

Jesidentum – was ist das?

Wenn wir an monotheistische Religionen denken, kommen uns als erstes die abrahamitischen Religionen in den Sinn. Das Judentum gilt gemeinhin als die älteste Religion (unter den monotheistischen). Auf das Judentum aufbauend folgen Christentum und Islam.

Nur wenigen Menschen ist das Jesidentum überhaupt ein Begriff. Und um es kurz zu machen: Nein, mit Jesus haben die Jesiden nichts zu tun.

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Namensherkunft des Jesidentums

Zur Etymologie des Namens gibt es unterschiedliche Theorien. Bei den Theorien zur Namensgebung spielen ein Kalif oder alternativ auch ein mittelalterlicher Geistlicher eine Rolle, die jeweils Yazid hießen.

Am gängigsten ist aber die Rückführung auf das altiranische Wort Yazata, welches sich wohl ursprünglich auf zoroastrische Gottheiten des alten Irans bezog und entsprechend auch soviel wie Gott/Gottheit bedeutet.

Iranische Religionen: Zoroastrismus, Jesidentum, Bahāʾītum

In Deutschland wird bevorzugt die Eigenbezeichnung Êzîden oder Eziden verwendet. Die Bezeichnungen Jesiden, Yeziden, Jeziden, Yazidis oder Yezidis werden von den Eziden selbst gemieden.

Verbreitung des Jesidentums

Es gibt etwa eine Million Jesidinnen und Jesiden. Viele empfinden sich ethnisch als Kurden. Andere sehen das Jesidentum als eigenständige ethnische Gruppe.

Jesidentum_Verbreitung
Das Jesidentum ist auf der Karte dunkelgrün.

Etwa die Hälfte der Jesiden lebt im Irak. In Armenien gibt es eine größere Gruppe von rund 30.000 Jesiden. In Syrien, Georgien, der Türkei und Russland leben jeweils auch einige tausend.

Jesiden in Deutschland

In Deutschland lebt die erstaunlich hohe Zahl von 180.000 bis 200.000 Jesiden.

Die Einwanderung erfolgte aus mehreren Quellen, darunter:

  • Einwanderung aus der Türkei als Gastarbeiter (ab 1964),
  • Einwanderung syrischer Jesiden (ca. 1980-1990),
  • Einwanderung aus dem Irak und Flucht vor Verfolgung durch das Baath-Regime unter Saddam Hussein (ab ca. 1985),
  • Einwanderung aus dem Irak nach dem zweiten Irakkrieg sowie die
  • Flucht vor dem Shingal-Völkermord durch den “Islamischen Staat”
Deutsche Yeziden:
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Yeziden in Deutschland: Tradition, Integration und Assimilation

Ursprungsgebiet des Jesidentums: Ezidchan

Ursprünglich befanden sich die jesidischen Siedlungsgebiete in Nordmesopotamien. Diese Siedlungsgebiete werden auch als Ezidchan bezeichnet. Sie erstrecken sich auf den Nordirak, das nördliche Syrien und südöstliche Teile der Türkei.

Hier verteilten sich jesidische Siedlungen hauptsächlich auf die Region Schaichān (bei Mossul) und den Höhenzug Dschabal Sindschar.

Schaichān 

Der Schaichān-Distrikt beherbergt unter anderem 

  • das Lalisch-Tal als religiöses Zentrum, 
  • die Residenz des Mīr von Schaichān, dem Oberhaupt der Jesiden sowie 
  • die Gelehrtenzentren Baʿschīqa und Bahzānē.

Im Lalisch-Tal finden jährlich religiöse Feste und Zeremonien statt. Für die Jesiden ist es ein heiliger Ort, der auch in der jesidischen Schöpfungsgeschichte eine wichtige Rolle spielt, denn dies war der erste Ort, an dem Gott der Legende nach festen Boden schuf. Nach Möglichkeit unternehmen Jesiden Pilgerfahrten ins Lalisch-Tal.

Dschabal Sindschar

Der etwa 60 km lange Höhenzug beherbergt jesidische Pilgerstätten und Heiligtümer und weist eine bewegte Geschichte im Spannungsfeld von Römern, Parthern, Byzanz, den Sassaniden, Zoroastrier, Juden, Christen und Moslems auf. Im Oktober 2014 fanden hier erbitterte Kämpfe zwischen dem Islamischen Staat und jesidischen Kämpfern sowie Peschmerga-Bürgerwehren statt.

“Jesidische” Sprache: Kurmandschi

Zum allergrößten Teil sprechen Jesiden Kurmandschi, eine der drei kurdischen Sprachen. Diese wiederum gehören zu den westiranischen Sprachen des indoiranischen Sprachzweigs.

Jesidische Religion und Glaubenslehren

Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, die folglich nur an einen einzigen Gott glaubt. Laut einigen Jesiden geht das Jesidentum bis zum altpersischen Mithras-Kult oder noch früher zurück. Demnach wäre sie die derzeit älteste noch praktizierte monotheistische Religion. 

Vorwiegend mündliche Überlieferung

Anders als bei den drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christenum und Islam gibt es im Jesidentum vorwiegend eine mündliche Überlieferung. Die Tradition der Glaubenslehren erfolgt vorwiegend durch sogenannte Qewlên. Dies sind heilige Gesänge und Hymnen, die die religiösen Lehren des Jesidentums zum Inhalt haben.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhundert erfolgten zusätzlich zur mündlichen Überlieferung, die vorwiegend von der Priesterkaste organisiert wird, eine schriftliche. Dadurch gibt es zwei heilige Schriften der Jesiden: 

  1. Kitêba Cilwe (“Buch der Offenbarung”, 1911) und 
  2. Mishefa Reş (“Das Schwarze Buch”, 1913).

Schöpfungsgeschichte (Kosmogonie) im Jesidentum

Der Allmächtige Gott “Ezid” im Jesidentum ist ein Schöpfergott, der das Universum aus einer Perle erschuf. Weiter erschuf er sieben Engel, die dann wiederum der Erde und allen weiteren Himmelskörpern Gestalt gaben.

Zum Vergleich: unser Artikel zur Schöpfungsgeschichte in der Bibel

Die Sieben Engel, Melek Taus und der Pfau

Die sieben Engel spielen eine wichtige Rolle im Jesidentum. Das Oberhaupt der sieben Engel heißt Melek Taus (Tausî Melek), der üblicherweise durch einen blauen Pfau symbolisiert wird. Melek Taus gilt als Stellvertreter Gottes auf Erden und als vermittelndes Bindeglied zwischen Gott und den Menschen.

Das Volk des Engel Pfau:
Die Eziden

ʿAdī ibn Musāfir

Der sunnitische Scheich Abu Sufi ibn Salaf Sheikh Adi (ʿAdī ibn Musāfir)(ca. 1073-1162) wird von den Jesiden als Inkarnation des Melek Taus verehrt.

In ihm sehen sie einen Erneuerer der jesidischen Religion, der sie aus einer schwierigen Lage befreite und das Jesidentum wiederbelebte. Sein Grab im Lalisch-Tal ist Ort des jährlich im Oktober stattfindenden “Fests der Versammlung”.

Reinkarnation

Jesiden glauben an die Seelenwanderung. Demnach überdauert die Seele eines Verstorbenen den Tod und geht in einen anderen Körper über. Der neue Körper hängt von den Wohl- und Missetaten des vorherigen Lebens ab. 

Tabus in der jesidischen Religion

Wie bei vielen anderen Religionen gibt es auch im Jesidentum eine Reihe von Tabus.

  • Endogamie
    Jesidinnen und Jesiden ist es verboten, außerhalb der Gemeinschaft oder der religiösen Klasse (Kaste) zu heiraten. Eine Missachtung hat den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge. Jeside sein kann daher nur, wessen beide Elternteile ebenfalls Jesiden sind.
  • Tabuisierung des Wortes “Satan”
    Das Wort “Saitan” (Satan) darf nicht ausgesprochen werden. Grund dafür ist, dass allein die Aussprache des Wortes bereits Anerkennung bedeute.
  • Speisetabus
    Auch Jesiden müssen sich von manchen Speisen fernhalten, darunter Okraschoten, Kürbisse, Kohl, Fisch und Schweinefleisch.
  • Kleidung
    Das Tragen blauer Kleidung wird von Jesiden vermieden.
Die besonderen traditionellen Regeln der Partnerwahl der Yeziden und deren Auswirkung auf die Integration

Religiöse und soziale Organisation im Jesidentum

Dreiklassen-Gemeinschaft

Das Jesidentum kennt drei religiöse Klassen (Kasten), deren Zugehörigkeit vererbt wird. 

  1. Scheiche, 
  2. Pīre und 
  3. Murīdūn.

Scheiche und Pīre gehören zur geistlichen Führung und sorgen für den religiösen Zusammenhalt und die Durchführung von Zeremonien und Riten. Die Murīdūn sind als dritte und größte Kaste die Laien. Sie sind weiter unterteilt in Stämme. Angehörige verschiedener Stämme dürfen heiraten.

Fürst und andere jesidische Führer

Der Mīr (“Fürst”) ist das weltliche und geistliche Oberhaupt aller Jesiden. Er gilt als Stellvertreter des Melek Taus und stammt aus einer ganz bestimmten Scheich-Familie. Das Amt wird vererbt.

Zusätzlich gibt es den Bābā Schaich (“Vater Scheich”), dessen Sitz im Lalisch-Tal liegt. Der Peschimām (“Vorsteher”) kümmert sich um Hochzeiten. Der Tschawūsch ist der im Zölibat lebende Wächter des Heiligtums von Lalisch. Dort tun auch die Koceks Dienst, freiwillige Helfer, die aber auch Wunder tun und wahrsagen sollen.

Teufelsanbeter oder Sonnenkinder?

Jesidische Glaubensfeste und Riten

Übergangsrituale

Es gibt unterschiedliche Übergangsriten, die im Yezidentum durchlaufen werden, darunter …

  • der erste Haarschnitt bei Knaben (biska pora),
  • das Besprengen mit Wasser aus einer heiligen Quelle (mor kirin), 
  • die Beschneidung von Knaben (sinet) sowie
  • die Auswahl eines Jenseits-Bruders oder einer Jenseits-Schwester.

Bellendan

Bei diesem Feiertag im Dezember wird Brot gebacken und an die Armen verteilt, wahlweise auch an die Nachbarn. Ins Brot gemischte Rosinen sollen Glück bringen. 

Sersal (Jesidisches Neujahrsfest)

Das Neujahrsfest im Jesidentum fällt auf den ersten Mittwoch nach dem 14. April. Zu diesem Familienfest kommen Angehörige auch aus großen Entfernungen und der Diaspora zusammen. Ähnlich wie bei Ostern spielen bunt gefärbte Eier eine Rolle, die von den Kindern gesucht werden müssen.

Tawusgerran

Bei diesem bedeutenden jesidischen Fest kamen Mitglieder der “Quawwal”-Kaste in die Dörfer, um dort die heiligen Hymnen vorzutragen. Dabei wurde eine metallene Figur des Melek Taus als Pfau mitgeführt. Diese wurde dann von den jeweiligen Dorfbewohnern verehrt. Aufgrund politischer Spannungen und den heutigen Grenzverläufen kann das Tawusgerran heutzutage faktisch aber nicht mehr stattfinden.

Pilgerfahrt/Wallfahrt nach Lalisch

Am Grab des Scheich ʿAdī (s. o.) findet jedes Jahr das große Versammlungsfest “Jashne Jimaiye” statt. Zu dieser Zeit versammeln sich nach den Vorstellungen des Jesidentums die “Sieben Mysterien”. Entsprechend dauert das Fest sieben Tage. Jeder Jeside soll die Pilgerfahrt mindestens einmal in seinem Leben absolviert haben.

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Heilig im Jesidentum: Das Grab Adi-ibn-Musafirs im Lalisch-Tal

Jesidenverfolgung

„… auf dem Sindschar und am Südrande ihres Gebietes wohnen Jesiden, eine religiöse Sekte, welche heidnische Überreste in mohammedanischer und christlicher Umdeutung bewahrt, von welchen die Türken annehmen, daß sie den Teufel anbeten, und die deshalb in Sklaverei verkauft werden dürfen.“

Helmuth von Moltke

Verfolgung der Jesiden durch Muslime

Jesiden werden als Ungläubige betrachtet, deren Tötung durch den Islam sanktioniert (erlaubt) ist. Da es keine jesidische Miliz und weitgehend wenig politische Unterstützung gibt, werden Jesiden im Irak überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalttaten und Diskriminierung.

Spätestens ab 1415 wurden Jesiden von kurdischen Muslimen verfolgt, was eine blutige Spur der Gewalt nach sich zog. Sowohl Jesiden als auch kurdische Anhänger das Islam kamen dabei zu Tode.

Die ideologische Grundlage der Verfolgung ist, dass Jesiden im Islam als Ungläubige gelten. Insbesondere die Verehrung des Melek Taus wird als “Teufelsanbetung” ausgelegt. Gestützt wird diese Haltung durch eine Reihe von Fatwas.

Jesidenverfolgung im Osmanischen Reich

Im Osmanischen Reich kamen türkische Muslime hinzu, die die Jesiden verfolgten, töteten oder zur Konversion zum Islam nötigten. Der Einfluss der Jesiden nahm folglich immer weiter ab. Es gab aber auch Zusammenschlüsse der Jesiden mit den Kurden gegen das Osmanische Reich. Die darauf folgenden Strafexpeditionen der Osmanen endeten jedoch allzu oft in Massakern an der jesidischen Bevölkerung.

Jesidenverfolgung durch Saddam Hussein

Im 20. Jahrhundert stieß der irakische Diktator Saddam Hussein eine Arabisierungskampagne an. Dabei wurden jesidische Dörfer und Städte zerstört und zahlreiche Jesiden zur Konversion zum Islam gezwungen. An Schulen wurde weder ihre Sprache noch ihre Religion gelehrt.

Massaker von Sindschar (2007)

Am 14. August 2007 verübte die Terrororganisation al-Qaida in den Dörfern Siba Scheich Khidir und Til Ezer ein Massaker, dem 796 Menschen zum Opfer fielen. Über 1.500 weitere Menschen wurden verletzt. Selbstmordattentäter drangen mit einem Lastwagen und drei PKW voller Sprengstoff in die Dörfer ein.

Der Attentäter, der den Lastwagen steuerte, gab diesen als Lebensmitteltransport aus, was zahlreiche jesidische Dorfbewohner anlockte. Inmitten der Menschentraube brachte er den LKW zur Detonation, was innerhalb eines Quadratkilometers zu schwersten Zerstörungen führte. Als Rettungskräfte und weitere Dorfbewohner sich am Anschlagsort um die Verletzten kümmerten, fuhren die weiteren Attentäter ihre Autobomben in die Menge und zündeten diese ebenfalls. Über 2.500 Häuser wurden dabei beschädigt oder vollständig zerstört.

Ein eindrückliches Bild von der Verfolgung der Jesiden im Irak zeichnet Hady Jako
Von der IS-Sklavin zum Friedensnobelpreis: die Jesidin Nadia Murad

Völkermord an den Jesiden (2014)

Nur wenige Jahre später drangen Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat in Sindschar ein und ermordeten rund 5.000 Jesidinnen und Jesiden. Rund 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt. Von fast 3.000 Jesiden fehlt bis heute jede Spur. 400.000 Jesiden begaben sich auf die Flucht und/oder wurden vertrieben. 

Ferman 74: Der Genozid an den Jesiden 2014/15

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