Das kirchliche Arbeitsrecht schafft in Deutschland eine Ausnahmesituation: Es regelt die Arbeitsbedingungen und die rechtlichen Rahmen für Angestellte der Kirchen und kirchennaher Organisationen. Für die einen ist das ganz normal – für andere ist es eine ausbeuterische Methode der Kirche, um das Mitbestimmungsrecht der Belegschaften zu beschneiden und Arbeitnehmer*innen weltanschaulich zu bevormunden.

Für wen gilt das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland?
Sehen wir uns zuerst an, wer überhaupt davon betroffen ist – in aller gebotenen Kürze. In nachfolgenden Büchern wird das Thema erschöpfend erörtert.
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Wohlfahrtsorganisationen
Betroffen von der Regelung sind in Deutschland vor allem die Angestellten der großen Wohlfahrtsorganisationen. Dazu gehören vor allem der Deutsche Caritasverband (römisch-katholische Kirche) mit rund 660.000 Beschäftigten sowie die zur evangelischen Kirche gehörende Diakonie Deutschland mit knapp 600.000 Beschäftigten.
Allein bei diesen beiden gottgefälligen Organisationen sind also rund 1,25 Millionen Menschen im Rahmen des kirchlichen Arbeitsrechts angestellt. Die Caritas ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland (nach dem Staat selbst), ihr Umsatz belief sich im Jahr 2020 auf rund 193 Millionen Euro.
Die Rede ist hier wohlgemerkt nur von Angestellten. Es kommen noch etwa dieselbe Zahl freiwilliger und ehrenamtlicher Helfer dazu, also nochmals rund 1,2 Millionen Menschen.
„Verfasste Kirche“
Auch das klerikale Personal selbst steht unter dem Arbeitsrecht der Kirche. Das bedeutet: Es ist für Angestellte der evangelischen Landeskirchen sowie bei der katholischen Kirche für die bei den Bistümern beschäftigten Menschen maßgeblich. Hinzu kommen noch katholische Ordensgemeinschaften, die sogenannten „Institute des geweihten Lebens“.
Zur Größenordnung: Bei den 27 (Erz-)Bistümern in Deutschland sind neben ein paar Dutzend Bischöfen knapp 13.000 Ordenspriester beschäftigt, hinzu kommen noch rund 3.000 Pastoralreferenten und knapp 5.000 Gemeindereferenten beziehungsweise -assistenten.
Das Gros der verfassten katholischen Kirche allerdings ist in den sogenannten Folgediensten beschäftigt: Verwaltung, Küster, Musiker*innen, Erzieher*innen und Pfleger*innen. Diese sogenannten „Dienstnehmenden“ stehen ebenfalls unter dem kirchlichen Arbeitsrecht (im sogenannten Dritten Weg, dazu gleich mehr).
In Summe handelt es sich um rund 100.000 Beschäftigte. Bei der evangelischen verfassten Kirche geht es sogar um 240.000 Beschäftigte (Stand: 2020). 77,4 Prozent dieser Menschen sind Frauen.

Bestimmungen des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland
Was bedeutet es nun konkret, im kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland beschäftigt zu sein? Dazu werfen wir einen kurzen Blick auf die gesetzlichen Grundlagen.
Gesetzliche Grundlagen des Kirchenarbeitsrechts: Artikel 140 des Grundgesetzes
Es erstaunt, dass die Bestimmungen des für das Kirchenarbeitsrechts maßgeblichen Paragrafen wortwörtlich aus der Weimarer Verfassung des Jahres 1919 übernommen wurden. So besteht der ganze Art. 140 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nur aus folgendem Wortlaut:
Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.
GG Art. 140
Der genannte Art. 137 der Weimarer Reichsverfassungas ist die Grundlage des sogenannten Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrechts, das Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften letztendlich den Erlass eines eigenen Arbeitsrechts erlaubt.
Kirchliches Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht
Das klingt ja erstmal ganz positiv: Das kirchliche Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht dient ja vornehmlich zur Trennung von Kirche und Staat. Die Krux daran: Es ist genau dieses Selbstbestimmungsrecht, das den Kirchen erlaubt, eine Art arbeitsrechtliche Parallelwelt aufzubauen.
Diese unterscheidet sich erheblich von den sonst üblichen rechtlichen Bestimmungen für nicht-kirchliche Angestellte. Grundsätzlich dürfen Kirchenarbeitsgesetze lediglich nicht gegen geltendes Recht verstoßen – ansonsten sind der Gesinnungsschnüffelei sowie fragwürdigen Einstellungsvoraussetzungen und Arbeitsbedingungen Tür und Tor weit geöffnet.
Die Abweichung wird in drei Aspekten deutlich:
- besondere Loyalitätspflichten,
- Mitarbeitervertretung und
- der sogenannte “Dritte Weg“ bei Entlohnung und Arbeitsbedingungen.
1. Loyalitätspflichten im kirchlichen Arbeitsrecht
Inwieweit die Kirche besondere Loyalität einfordern darf, ist seit längerem Gegenstand hitziger Debatten und gerichtlicher Auseinandersetzungen.
Grundlegend hierfür sind die sogenannten „Loyalitätsregelungen“ der evangelischen Kirche einerseits und die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ auf katholischer Seite.
Hier einige Zitate:
„Für eine Einstellung in den Dienst der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie kommt grundsätzlich nicht in Betracht, wer aus der evangelischen Kirche, aus einer anderen Kirche der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland oder der Vereinigung Evangelischer Freikirchen ausgetreten ist.“
Loyalitätsrichtlinie der EKD, § 3
„Für eine Kündigung sieht die Kirche insbesondere folgende Verstöße gegen die Loyalitätsobliegenheiten als schwerwiegend an: das öffentliche Eintreten gegen tragende Grundsätze der katholischen Kirche, z. B. die Propagierung der Abtreibung oder von Fremdenhass, (…) öffentliche Gotteslästerung, (…) insbesondere die Werbung für andere Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder (…) den kirchenrechtlich unzulässigen Abschluss einer Zivilehe (…) oder das Eingehen einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.“
Grundordnung des kirchlichen Dienstes, Art. 5
Man kann sich vorstellen, dass solche Regelungen in krassem Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Individuen empfunden werden. Entsprechend häufen sich gerichtliche Klagen geschiedener Hebammen, konvertierter Ärzte oder homosexueller Pfleger, denen aufgrund eines vermeintlichen Verstoßes gegen die Loyalitätspflichten im kirchlichen Arbeitsrecht von den kirchlichen Trägern gekündigt wurde.
Wiederkehrende Streitpunkte dabei sind:
- Konfessionszugehörigkeit und Konfessionswechsel,
- Kirchenaustritte,
- Mitgliedschaft in einer anderen Kirche,
- außerdienstliches Verhalten,
- sexuelle Orientierung und
- Ehestand (hier problematisch: Lebenspartnerschaften und Wiederverheiratung).
2018 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) dahingehend geurteilt, dass nicht für jede Anstellung bei den Kirchen eine Konfessionszugehörigkeit verlangt werden kann. Die EuGH-Richter*innen waren der Auffassung, dass eine Glaubenszugehörigkeit nur dann Einstellungsbedingung sein darf, wenn dies für die Tätigkeit unumgänglich sei.
An diesem Punkt sei daran erinnert, dass sämtliche erzieherischen, pflegerischen und karitativen Einrichtungen, denen die Kirchen ihr Etikett aufkleben, zum weitaus größten Teil aus Steuergeldern finanziert werden. Die Kirchen selbst tragen nur wenige Prozent zu deren Erhalt und Betrieb bei.
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2. Mitarbeitervertretungen
Ein weitere Abweichung vom herkömmlichen Arbeitsweg ist die Organisation in Mitarbeitervertretungen.
Praktischerweise nehmen die hierfür eigentlich zuständigen Regelungen, nämlich der § 118 des Betriebsverfassungsgesetz wie auch der $1 des Personalvertretungsgesetzes, die „Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform“ aus.
Kirchenrecht: Mitarbeitervertretung statt Betriebsrat
Entsprechend sucht man Betriebsräte in den kirchlichen Einrichtungen vergeblich: An ihrer Stelle gibt es die sogenannten Mitarbeitervertretungen (MAV). Diese nehmen im Grund eine ähnliche Funktion war wie ein Betriebsrat.
„Zur Sicherung ihrer Selbstbestimmung in der Arbeitsorganisation kirchlicher Einrichtungen wählen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Maßgabe kirchengesetzlicher Regelung Mitarbeitervertretungen, die an Entscheidungen des Dienstgebers beteiligt werden.“
Grundordnung des kirchlichen Dienstes, Art. 8
Geregelt werden die MAV durch die sogenannten Mitarbeitervertretungsgesetze. Für die evangelische Kirche gilt etwa als Rahmengesetz das „MVG-EKD“ (Kirchengesetz über Mitarbeitervertretungen in der evangelischen Kirche in Deutschland).
Die Mitarbeitervertretungsgesetze regeln die Zusammensetzung, Teilnahme, Freistellung, Rechte und Pflichten der Angestellten in der MAV und vieles mehr. Mehr Infos findest du in folgenden Büchern (klicke auf die Cover).
3. „Dritter Weg“
Der dritte Weg ist die kirchliche Variante des Tarifsystems. Der Begriff entstand in Abgrenzung vom ersten Weg (Regelungen durch den Arbeitgeber) und dem zweiten Weg (Tarifvertragssystem).
Der dritte Weg bedeutet, dass die Kirchen Arbeitsbedingungen eigenständig in Richtlinien und Ordnungen festschreiben – eine Extrawurst wie schon bei der Kirchensteuer.
Diese Festschreibung erfolgt durch Gremien, in denen Vertreter des kirchlichen Arbeitgebers und gewählten Vertretern der Mitarbeiter*innen paritätisch vertreten sind.
Grundsätzlich ähneln diese Richtlinien jenen aus der freien Wirtschaft, allerdings gibt es im einzelnen doch starke Unterschiede.
Kein Streikrecht für kirchliche Angestellte?
Die kirchlichen kollektiven Arbeitsvertragsrichtlinien sind in Bezug auf ein Streikrecht nicht eindeutig. Oft wird argumentiert, das Streikrecht stünde dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen entgegen und entspräche nicht dem Grundsatz der Arbeitskampfparität – einem Prinzip, das in Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine „Dienstgemeinschaft“ im Dienst der Nächstenliebe sehen will.
Die Caritas schreibt dazu auf ihrer Homepage:
„Arbeitskämpfe, Aussperrungen und Streiks passen ebenso wenig zum Selbstverständnis des kirchlichen Dienstes wie das einseitige Festlegen von Arbeitsbedingungen durch die Leitung. Diese beiden Modelle lassen sich nicht mit der gemeinsamen Verantwortung der Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Dienstgeber für den Auftrag der Kirche vereinbaren.“
www.caritas.de
Nach Verfassungsbeschwerden der Gewerkschaft ver.di im Jahr 2015 kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Urteil, dass in kirchlichen Einrichtungen kein Streikverbot herrscht.
Fazit Kirchenarbeitsrecht: Ist das Recht oder kann das weg?
Die Tendenz geht beim kirchlichen Arbeitsrecht immer mehr zu einer Liberalisierung. Kein Wunder – immer weniger Arbeitnehmer*innen gehören in Deutschland noch einer Konfession an. Und auch Gläubige haben immer weniger Lust, sich vom Arbeitgeber bis ins Privatleben hinein durchleuchten und auf die „rechte Gesinnung“ abklopfen zu lassen. Rigide Regelungen wie die automatische Kündigung (!) beispielsweise nach einer Scheidung werden daher immer weiter aufgeweicht.
Zudem treten auch Antidiskriminierungsgesetze zunehmend in Widerspruch, wie sich auf EU-Ebene am Beispiel des EuGH-Urteils (s. o.) zeigt.
Im Grundsatz erscheint die Legitimation des Arbeitskirchenrechts bereits fraglich. Letzten Endes sind hier noch Artikel aus der Weimarer Verfassung wirksam, was dringend renovierungsbedürftig erscheint – ironischerweise gab es in der Weimarer Republik allerdings sehr wohl ein Streikrecht auch in den Kirchen.
Die Kirchen ruhen sich auf dem Selbstbestimmungsrecht aus – aber mit welcher Legitimation? Dort, wo es auf Glaubensinhalte ankommt, mag dies ja noch sinnvoll erscheinen, in den sogenannten „verkündigungsnahen Bereichen“. Damit ein Bischof sein Gehalt bekommt, sollte er halt auch richtig predigen können.
Dass ein Hausmeister, eine Hilfsköchin oder ein*e Altenpfleger*in nicht im Rahmen des allgemein gültigen Arbeitsrechts angestellt sein kann und zu einem Arbeitnehmer zweiter Klasse herabgesetzt wird, ist hingegen ein Skandal.
„Nur für die wenigsten der Beschäftigten dort, oft nur für einen Barmherzigen Bruder an der Spitze, ist das Krankenhaus ein Religionsausübungsbetrieb – für alle anderen ist es eine normale Arbeitsstelle.“
Heribert Prantl
Diesen Missstand zu beseitigen und der Dünkelei der Kirchen entschlossen entgegenzutreten, sollte Ziel jeder Partei sein, die sich um das soziale Wohl und die soziale Sicherheit von Arbeitnehmer*innen sorgt.
Währen dies allerdings im Wahlkampf noch vollmundig angekündigt wurde, findet sich im Koalitionsvertrag nur noch ein Prüfauftrag, der auch noch gemeinsam mit den Kirchen erfolgen soll: ob „das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen“ werden kann.
Das ist viel zu wenig. Ein Ende der Ungleichbehandlung wurde im Wahlkampf versprochen – Zeit, sich daran zu erinnern.
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