Die Exegese der Bibel hat einen dreifachen Sinn: Erstens, den ursprünglichen Textsinn der Bibel zu erschließen. Zweitens, ihre Botschaft zu verstehen. Und drittens, sie im jeweiligen historischen, kulturellen und theologischen Kontext zu interpretieren.
Die Botschaft der Bibel mit Exegese entschlüsseln
Was heißt das, „die Botschaft der Bibel zu verstehen“?
Es bedeutet, die in den Texten übermittelten Inhalte und Aussagen zu erfassen, die Autoren, Redaktoren oder Traditionsgemeinschaften beabsichtigt haben.

Diese Botschaft kann je nach religiösem Verständnis als göttliche Offenbarung, menschliche Reflexion über das Göttliche oder kulturell-historischer Ausdruck interpretiert werden.
Ist die Bibel also das „Wort Gottes“? Oder doch nur das von Menschen? Ist sie vom „heiligen Geist inspiriert“? Oder bildet sie nur das krude Stammesdenken einer antiken Hirtenkultur ab und ihrer archaischen Lebensweise ab?

Wessen Botschaft es letztlich ist, hängt von der Perspektive ab: Für Gläubige ist es die Botschaft Gottes, für Historiker und Literaturwissenschaftler die der Verfasser und ihrer sozialen Kontexte.
Die Exegese der Bibel entschlüsselt ihren Inhalt durch verschiedene Methoden, von der Patristik bis zur historisch-kritischen Methode. Wir geben hier einen groben Überblick und verlinken weiterführende Literatur.
Was bedeutet „Exegese“?
Exegese, abgeleitet aus dem Griechischen „ἐξήγησις“ (exégesis, „Auslegung“ oder „Erläuterung“), bezeichnet die wissenschaftliche Interpretation und Erklärung von Texten, insbesondere heiliger Schriften wie der Bibel.
Die Exegese wird üblicherweise als Teildisziplin der alttestamentlichen Wissenschaft gesehen, welche wiederum ein Zweig der Theologie ist.
Die Bibelauslegung bedient sich unter anderem der Erkenntisse aus der alttestamentlichen Literaturgeschichte, der Geschichte Israels und der Hermeneutik, um ihre Schlüsse zu ziehen.

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Gleichzeitig bewegt sie sich auch in den Forschungsfeldern der Judaistik, Orientalistik und Archäologie.
Geschichte der Bibel-Exegese
Zur Debatte stehen bei der Bibel sowohl die Schriften des Alten Testaments (AT, Tanach) als auch die des Neuen Testaments (NT, Evangelien).
Exegese Altes Testament
Wenden wir uns zunächst der „hebräischen Bibel“, also dem Alten Testament (AT), zu.

Sogleich tauchen die fundamentalen Fragen auf:
- Wer sind die Verfasser des Alten Testaments?
- Wo wurde es geschrieben?
- Wann wurde es geschrieben?
- Was war der historische Kontext?
- Wer redigierte die Schriften und stellte sie zur heutigen Form zusammen?
- Wie lassen sich alte Schriften heute interpretieren?
Das AT ist in Tora („Gesetz“), Nevi’im (Propheten) und Ketuvim („Schriften“) gegliedert. Diese altbiblischen Schriften entstanden ab ca. 1200 v. u. Z.

Ihre Kanonisierung begann wohl im 5. Jahrhundert v. Chr. und stand im 2. Jahrhundert v. Chr. einigermaßen fest. Abgeschlossen wurde sie aber erst im ersten Jahrhundert nach Christus. Grob gesagt, dauerte das Zusammentragen des Tanachs also über 1.000 Jahre.
Der Tanach umfasst 39 Bücher (im protestantischen Kanon). Katholische und orthodoxe Traditionen enthalten zusätzliche Schriften, welche man als Deuterokanonische Bücher bezeichnet.
In der jüdischen Tradition besteht der Tanach aber nur aus 24 Büchern.
Die Zählweise der 24 Bücher ergibt sich aus der Zusammenfassung bestimmter Bücher, die in der christlichen Bibel getrennt sind.
Zum Beispiel:
- 1. und 2. Samuel gelten als ein Buch.
- 1. und 2. Könige sowie 1. und 2. Chronik ebenfalls.
- Die zwölf kleinen Propheten (z. B. Hosea, Amos, Obadja) werden als ein einziges Buch gezählt: „Das Buch der Zwölf“.
- Esra und Nehemia werden als ein Buch gezählt.
- Ruth wird manchmal mit Richter kombiniert.
Die christliche Tradition übernahm die Schriften des Tanachs, passte aber die Zählweise und Reihenfolge an. Wichtig ist, dass die Texte im jüdischen Tanach und im protestantischen Alten Testament inhaltlich identisch sind. Der Unterschied liegt ausschließlich in der Organisation und Zählweise der Bücher.
Einigermaßen vollständig erhaltene Texte des Alten Testaments wurden aus dem 10. bzw. 11. Jahrhundert n. Chr. überliefert (Codex Leningradensis und Codex Aleppo). Dies sind die ältesten Ausgaben der hebräischen Bibel.
Fragmente existieren freilich schon viel früher, u. a. aus den berühmten Schriftrollen vom Toten Meer.

Exegese Neues Testament
Dieselben und ähnliche Fragen stellen sich bei der Betrachtung der 27 Bücher des Neuen Testaments:
- Wann wurden sie von wem geschrieben?
- Unter welchen Umständen?
- Wie wurden sie überliefert?
- Welche Aspekte sorgten für die Aufnahme einer Handschrift in den Bibelkanon, und warum wurden Schriften der Gnostiker als „Apokryphen“ ausgeschlossen?
- Wie sind einzelne Gleichnisse zu verstehen, worauf nehmen sie Bezug?
- Und wie geht man mit Widersprüchen in der Bibel um, wenn es sich doch angeblich um Augenzeugenberichte handelt?
Fragen über Fragen.
Exegese der jüdischen Bibel (PaRDeS)
Natürlich gab es schon vor dem Auftreten Jesu Bemühungen, die heilige Schrift zu interpretieren.
Diese jüdische Exegese der Bibel wird traditionell durch das Konzept des PaRDeS strukturiert, einer Abkürzung (Akronym) der vier Auslegungsebenen:
- Peshat (wörtliche Bedeutung),
- Remez (andeutende, allegorische Bedeutung),
- Derash (homiletische oder ethische Bedeutung) und
- Sod (geheime, mystische Bedeutung).
Diese Methode ermöglicht es, die Texte der Tora und anderer Schriften vielschichtig zu interpretieren. Während Peshat auf den ursprünglichen Kontext fokussiert, dringen Remez, Derash und Sod in spirituelle und symbolische Dimensionen vor.
Besonders in der Kabbala, der mystischen Tradition des Judentums, spielt Sod eine zentrale Rolle, da er den verborgenen göttlichen Willen im Text zu entschlüsseln sucht.
PaRDeS zeigt die Vielseitigkeit der jüdischen Bibelauslegung und verbindet wörtliche Genauigkeit mit spiritueller Tiefe.
Mit dem Auftreten Jesu wurde natürlich alles viel komplizierter. Denn: Mit dem Neuen Testament wurde eine Narration eingeführt, die einerseits eben ganz neu war, sich andererseits aber in der Tradition des Tanach sah und von diesem aufgrund vielerlei Vorhersagen über den Messias auch abhing.
Entsprechend oft finden wir Versuche der „Harmonisierung“ dieser zwei großen Stränge – manchmal recht übers Knie gebrochen. Denn Jesus muss ja als die Erfüllung messianischer Prophezeiungen dargestellt werden – auch, wenn’s nicht recht passt.
Lest dazu einfach mal:
Frühe Auslegungen der christlichen Bibel: Patristik
In den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära konzentrierten sich Kirchenväter wie Origenes und Augustinus von Hippo auf eine allegorische und theologische Interpretation der Bibel.
Sie sahen in den Texten sowohl eine wörtliche als auch eine spirituelle Dimension. Dabei wurden biblische Geschichten oft symbolisch gedeutet, um zeitlose theologische Wahrheiten zu vermitteln.
Augustinus prägte die Ansicht, dass Jesus als Messias und die Passion Christi im AT bereits angekündigt werden – das AT wurde damit theologisch untrennbar mit dem Christentum verbunden.
Bibel-Exegese im Mittelalter: Scholastik und dogmatische Auslegung
Im Mittelalter dominierte die scholastische Methode, die sich auf kirchliche Dogmen stützte. Texte wurden im Lichte der kirchlichen Tradition interpretiert.
Die Vierfachdeutung prägte die Exegese dieser Zeit.
Der „vierfache Schriftsinn“ der Bibel-Exegese
Der „vierfache Schriftsinn“ ist ein Modell der christlichen Bibel-Exegese, das die vielschichtige Bedeutung biblischer Texte beschreibt. Er umfasst …
- den wörtlichen Sinn (literal), der den historischen und textlichen Inhalt direkt beschreibt,
- den allegorischen Sinn, der geistliche Wahrheiten und Glaubenslehren enthüllt,
- den moralischen Sinn (tropologisch), der praktische Lehren für das ethische Verhalten bietet, und den
- anagogischen Sinn, der auf die letzten Dinge wie das ewige Leben und das Jenseits verweist.
Diese Methode, vor allem im Mittelalter verbreitet, sollte die Bibel als Text mit zeitloser Relevanz und tiefer Symbolik verständlich machen.
Der „vierfache Schriftsinn“ der christlichen Bibel-Exegese und das jüdische PaRDeS sind ähnlich, unterscheiden sich jedoch in Herkunft und Zielsetzung. Beide Systeme reflektieren die Idee, dass heilige Texte mehrere Ebenen der Bedeutung haben, sind aber keine identischen Konzepte.
Reformation, wörtliche Bedeutung und „sola scriptura“
Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts, allen voran Martin Luther und Johannes Calvin, betonten die wörtliche Auslegung der Bibel. Der vierfache Schriftsinn verlor an Bedeutung, der Literalsinn der Bibel rückte in den Vordergrund.

Die Reformatoren lehnten viele allegorische Deutungen der katholischen Kirche ab und plädierten für eine direkte, textbezogene Interpretation. Dies kam auch in den Prinzipien „sola scriptura“ (dt.: allein die Schrift) und „ad fontes“ (zu den Quellen) zum Ausdruck.
Die reformatorische Theologie entwickelte die These vom „Wort Gottes“, die sich in den nächsten Jahrhundert als maßgeblich für den protestantischen Glauben etablieren sollte und dies heute noch ist.

Im katholischen Glauben gibt es das Wort Gottes in zwei Formen: als Heilige Schrift und als mündliche Überlieferung, die „Apostolische Tradition“. Diese Tradition gibt vor, wie die Bibel „richtig“ verstanden wird, und dies wird durch das kirchliche Lehramt umgesetzt.
Wende der Bibel-Exegese durch die historisch-kritische Methode
Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert verlagerte sich der Fokus der Exegese auf eine wissenschaftlich-analytische Herangehensweise.
Aber warum? Die Aufklärung im 18. Jahrhundert brachte eine neue Denkweise mit sich, die Vernunft und empirische Wissenschaft in den Mittelpunkt stellte.
Traditionelle Autoritäten wie Kirche und Bibel wurden kritisch hinterfragt. Fortschritte in der Geschichtswissenschaft, Archäologie und Linguistik ermöglichten eine genauere Analyse der biblischen Texte, ihrer Entstehung und ihres kulturellen Kontexts.
Entscheidend war sicherlich auch die zunehmende Verfügbarkeit biblischer Texte. Durch die Erfindung des Buchdrucks und die damit verbundene Verbreitung von Wissen konnten Gelehrte immer umfassender auf biblische Texte und historische Dokumente zugreifen.

Gleichzeitig führte der Einfluss rationalistischer Philosophen zu der Überzeugung, dass die Bibel nicht als übernatürliches Dokument, sondern als historisches Werk verstanden werden müsse, das den gleichen kritischen Maßstäben wie andere Texte unterliegt. Dies markierte den Beginn der historisch-kritischen Methode in der Exegese.
Die historisch-kritische Methode untersucht biblische Texte als Produkte ihrer Zeit und fragt nach den historischen Umständen ihrer Entstehung.
Dazu gehören:
- Quellenkritik: Welche Vorlagen wurden verwendet?
- Formkritik: Welche literarischen Formen liegen vor?
- Redaktionskritik: Wie und warum wurden Texte redaktionell bearbeitet?
Diese Methode führte zu einer Entmystifizierung der Bibel, indem sie sie als Sammlung menschlicher Dokumente betrachtet, die in spezifischen kulturellen und politischen Kontexten entstanden sind.

Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode
Die historisch-kritische Methode revolutionierte die Bibelwissenschaft und lieferte Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte biblischer Bücher.
So zeigte sie beispielsweise auf, dass die fünf Bücher Mose (Tora) aus verschiedenen Quellen (J, E, D, P) zusammengesetzt wurden, die über Jahrhunderte hinweg redaktionell bearbeitet wurden.
Die historisch-kritische Methode revolutionierte die Exegese, indem sie die Bibel nicht mehr primär als göttlich inspiriertes Dokument, sondern als historisches und kulturelles Produkt ihrer Zeit analysierte.
Sie zielt darauf ab, die ursprüngliche Bedeutung der Texte zu rekonstruieren und beleuchtet die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe, um die Texte besser zu verstehen.
Dies führt oft zu einer Entmythologisierung von Inhalten und einer kritischeren Sicht auf die Autorität und Wörtlichkeit biblischer Aussagen. Die Methode fördert somit eine differenzierte und wissenschaftlich fundierte Auslegung, die sich von dogmatischen Interpretationen löst
Fazit: Exegese zwischen Wissenschaft und Glaube
Die Exegese der Bibel ist ein komplexes Feld, das zwischen wissenschaftlicher Analyse und theologischer Deutung angesiedelt ist.
Die historisch-kritische Methode entzaubert die Bibel; sie wird vom dogmatischen, nicht hinterfragbaren Glaubensursprung zu einem kontingenten historischen Dokument.
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