Der Begriff „Dispensationalismus“ beschreibt eine theologische Lehre, die die Bibel und die Geschichte der Menschheit in verschiedene Zeitalter oder „Heilszeitalter“ unterteilt.
Kirchenväter und Dispensationen
Jedes dieser Zeitalter – oder Dispensationen – repräsentiert eine Phase, in der Gott mit der Menschheit auf unterschiedliche Weise interagiert und unterschiedliche Anforderungen an sie stellt. Jede Dispensation hat zudem ein geistliches „Ziel“.
Bereits die Kirchenväter wie Irenäus von Lyon oder Clemens von Alexandria postulierten verschiedene Epochen der Heilsbringung.

Grundzüge des Dispensationalismus
Der Dispensationalismus basiert auf der Annahme, dass Gott seine Offenbarung und seinen Plan für die Menschheit über die Zeit hinweg in Abschnitten offenbart.
Traditionell werden nach Augustinus von Hippo (354–430) sieben Dispensationen unterschieden, darunter:
- Unschuld (Schöpfung bis zum Sündenfall)
- Gewissen (Sündenfall bis zur Sintflut)
- Herrschaft (Nach der Sintflut bis zum Turmbau zu Babel)
- Verheißung (Abraham bis zum Gesetz)
- Gesetz (Mose bis Jesus)
- Gnade (von Jesus bis zur Entrückung der Kirche)
- Königreich (das Tausendjährige Reich)
Diese Zeiteinteilung bietet für Anhänger des Dispensationalismus eine scheinbar logische Struktur, um die oft widersprüchlichen Texte der Bibel zu interpretieren.
Sie ermöglicht es, biblische Prophezeiungen wörtlich zu nehmen, insbesondere in Bezug auf das „Ende der Zeiten“ und die Rückkehr Christi („Wiederkunft“).
Hier haben wir nämlich eines eines der Hauptprobleme des Christentums: Obwohl Jesus den Weltuntergang und das Reich Gottes noch zu Lebzeiten seiner Generation ankündigte, geschah nichts dergleichen. (Die zentralen Aussagen finden sich bei Markus 13:30, Matthäus 16:28 und 24:34 sowie Lukas 21:32.)

Dispensationalismus, Wiederkunft und die Endzeit
Ein markantes Merkmal des Dispensationalismus ist seine eschatologische (endzeitliche) Ausrichtung.
Darby und seine Nachfolger (s. u.) glaubten fest an die bevorstehende sogenannte „Entrückung“: Gläubige werden vor einer großen Trübsalszeit in den Himmel gehoben, während die Welt auf das zweite Kommen Christi zusteuert.
In der christlichen Endzeitlehre gibt es mehrere Varianten, die sogenannte Tausendjährige Herrschaft Christi zeitlich einzuordnen: Man bezeichnet sie als Amillenarismus (1000 Jahre nur symbolisch), Postmillenarismus (Wiederkunft nach dem „Millennium“) und Prämillenarismus (Wiederkunft vor dem „Millennium“).
Etwas genauer erklärt ist das hier:
Der Dispensationalismus ist dabei am meisten mit dem Prämilleniarismus verbunden.

Moderner Dispensationalismus
Besonders populär wurde der moderne Dispensationalismus im 19. Jahrhundert durch John Nelson Darby (1800–1882) und die Brüderbewegung der Plymouth-Brüder.

Darbys Dispensationalismus zeichnet sich durch die klare Unterscheidung zwischen Israel, dem „irdischen Volk Gottes“ mit seinen weltlichen Verheißungen und einer irdischen Zukunft, und der Gemeinde, dem „himmlischen Volk Gottes“ mit geistlichen Verheißungen und einer himmlischen Bestimmung, aus.
Dieses theologische und hermeneutische Konzept erlangte insbesondere im amerikanischen Protestantismus, weit über die Brüderbewegung hinaus, große Bekanntheit und diente unter anderem als Basis für die Scofield-Bibel.
Diese Lehre hat vor allem in den USA weite Verbreitung gefunden und prägte Bücher wie die „Left Behind“-Reihe, die apokalyptische Szenarien populär machte.

Doch die Fixierung auf eine wörtliche Auslegung der biblischen Endzeitprophezeiungen hat neben Kritik auch einiges an Spott hervorgerufen.
Kritiker werfen dem Dispensationalismus vor, ein dualistisches Weltbild zu fördern, das Konflikte zwischen „Guten“ und „Bösen“ unvermeidlich erscheinen lässt – was oft als Rechtfertigung für politische Entscheidungen missbraucht wurde.
Spöttelnde Atheisten hingegen machen sich über das Konzept der Entrückung und die Tatsache lustig, dass die Prophezeiungen verschiedener US-Prediger zum Beginn der Endzeit natürlich allesamt falsch waren.

Kritik am Dispensationalismus
Theologisch wird der Dispensationalismus vor allem dafür kritisiert, dass er die Einheit der Bibel untergräbt. Gegner argumentieren, dass die Einteilung in unterschiedliche Zeitalter Gottes Plan als inkohärent erscheinen lässt und den Schwerpunkt zu sehr auf Endzeitspekulationen legt.
Zudem wird die stark wörtliche Auslegung der Bibel von vielen Mainstream-Theologen als naiv abgelehnt. Der Fokus auf die Entrückung und das Tausendjährige Reich lenke von der „christlichen Botschaft“ ab.
Auch aus Sicht der Logik und Kohärenz bietet der Dispensationalismus einige Ansatzpunkte für Kritik, insbesondere in Bezug auf seine hermeneutischen Grundsätze und die daraus resultierende Theologie. Hier einige Stichpunkte.
- Es ist unklar, wie die Heilsgeschichte Gottes kohärent bleibt, wenn Israel und die Gemeinde unterschiedlichen Verheißungen und Plänen unterliegen. Dies könnte einen Bruch in Gottes Wesen und Absichten implizieren, was theologisch problematisch ist.
- Viele Bibelstellen (z. B. Römer 9–11, Galater 3:28) betonen eine Einheit des Gottesvolkes. Die dispensationalistische Trennung wirkt daher exegetisch und logisch erzwungen.
- Obwohl Dispensationalisten behaupten, die Bibel wörtlich auszulegen, interpretieren sie einige Stellen, wie die Entrückung, symbolisch oder spekulativ. Diese selektive Anwendung ist inkohärent.
- Die Bibel enthält verschiedene Genres (Poesie, Prophetie, Geschichtsschreibung), die nicht immer wörtlich verstanden werden können, ohne den ursprünglichen Sinn zu verzerren.
- Die genaue Anzahl und Definition der „Dispensationen“ wird nicht aus der Bibel abgeleitet, sondern theologischen Konstruktionen übergestülpt. Dies wirkt eher spekulativ als logisch zwingend.
- Die Lehre der Entrückung wird häufig aus impliziten Texten (z. B. 1. Thessalonicher 4:17) abgeleitet, die keine klare Unterstützung bieten. Dies führt zu einer spekulativen Theologie.
- Die doppelte Wiederkunft Christi (einmal für die Entrückung, dann für das Jüngste Gericht) wird nicht eindeutig durch die Bibel belegt und wirkt kohärent schwer erklärbar.
- Die Fixierung auf Israel als besonderen Akteur in Gottes Plan steht im Widerspruch zu der biblischen Botschaft, dass Heil und Gerechtigkeit universell zugänglich sind.
Theologie oder Zeitgeist?
Der Dispensationalismus mag eine klare Struktur und spektakuläre Erzählungen bieten, doch er bleibt ein theologisch und historisch umstrittenes System.
Der Dispensationalismus ist innerhalb des Christentums in erster Linie in evangelikalen und freikirchlichen Kreisen verbreitet, insbesondere im angloamerikanischen Raum. Seine Verbreitung ist jedoch stark konfessionsabhängig, da er nicht von allen christlichen Denominationen akzeptiert wird.
In der katholischen und orthodoxen Theologie hat der Dispensationalismus keinen Platz. Beide Traditionen folgen einer allegorischen oder typologischen Bibelauslegung und lehnen die dispensationalistische Betonung einer wörtlichen Schriftauslegung sowie die strikte Trennung zwischen Israel und Gemeinde entschieden ab.
Seine Popularität in evangelikalen und baptistischen Gemeinden zeigt, wie sehr Menschen nach einfachen Antworten und einem greifbaren Plan suchen – auch wenn dies auf Kosten eines differenzierten Verständnisses der Bibel geht.
Ob Heilszeitalter oder nicht: Am Ende bleibt die Frage, ob Gott wirklich so simpel in Schubladen passt, wie es der Dispensationalismus behauptet.

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