Das Bahaitum ist eine der jüngsten Weltreligionen – und zugleich eine der am wenigsten bekannten. Mit rund fünf bis acht Millionen Anhängern weltweit gilt der Bahá’í-Glaube als globale Religion mit universellem Anspruch. Er wirbt für die Einheit der Menschheit, soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog.
Doch was genau verbirgt sich hinter dieser Bewegung, die in westlichen Medien oft als „liberaler Islam-Ableger“ oder „harmonische Weltreligion“ beschrieben wird?
Ein genauer Blick zeigt: Das Bahaitum ist weder bloßer Synkretismus noch bloß Idealismus – sondern ein komplexes Glaubenssystem. Wenn auch mit eigenen Widersprüchen.
Was ist das Bahaitum?
Das Bahaitum ist eine monotheistische Religion, die Mitte des 19. Jahrhunderts im heutigen Iran entstand. Sie erkennt die großen Weltreligionen als Stationen einer fortschreitenden göttlichen Offenbarung an – von Moses über Buddha, Jesus, Mohammed bis hin zu ihrem eigenen Stifter, Bahá’u’lláh.

Ziel der Bahai ist eine weltumspannende geistige Ordnung, die die Einheit der Menschheit betont und religiöse Vielfalt nicht als Widerspruch, sondern als Ausdruck göttlicher Erziehung begreift. Der Anspruch ist also hoch: Wahrheit ja – aber nicht exklusiv.
Ursprung und Geschichte des Bahaitums
Das Bahaitum entstand im religiösen Umfeld des schiitischen Islam, konkret aus der Bábí-Bewegung, deren Begründer der Báb war.
Er verkündete eine neue Offenbarung und bereitete den Weg für Bahá’u’lláh, der sich später als der von Gott gesandte Lehrer für eine neue Epoche verstand.
Nach schweren Verfolgungen im Iran und Osmanischen Reich verlagerte sich das Zentrum des Glaubens ins heutige Israel, wo sich bis heute das geistige und administrative Zentrum der Bahá’í befindet. Die Geschichte des Bahaitums ist geprägt von Idealismus, Verfolgung – und dem Versuch, Religion neu zu denken.

Die Grundprinzipien des Bahaitums: Einheit der Menschheit und göttliche Offenbarung
Zentrale Prinzipien des Bahaitums sind die Einheit Gottes, die Einheit der Religionen und die Einheit der Menschheit. Alle Religionen werden als aufeinanderfolgende Offenbarungen einer göttlichen Wahrheit verstanden – angepasst an die jeweilige Zeit und Kultur.
Hinzu kommen ethische Forderungen wie Gleichberechtigung der Geschlechter, weltweiter Frieden, Abschaffung extremer Armut und Bildung für alle. Die Spiritualität ist eng mit gesellschaftlicher Verantwortung verknüpft. Kritiker sehen darin weniger Religion im klassischen Sinne, sondern ein spirituelles Weltethos mit organisatorischem Überbau.
Das Wesen der Bahá’í-Gottheit: ein Gott jenseits der Vorstellung
Im Bahá’í-Glauben wird Gott als allmächtiges, allwissendes, transzendentes Wesen verstanden – eine Realität, die über jede menschliche Vorstellung hinausgeht. Gott ist für die Gläubigen kein anthropomorpher Richter oder väterlicher Himmelslenker, sondern ein unbegreifliches Prinzip der Einheit, Quelle aller Schöpfung und Ursprung aller Offenbarung.
Gleichzeitig bleibt dieser Gott völlig unerkennbar: Kein Bild, kein Begriff, keine direkte Erfahrung kann ihn fassen.
„Manifestationen Gottes“
Die „Manifestationen Gottes“ – also Religionsstifter wie Moses, Jesus, Mohammed und Bahá’u’lláh – sind daher notwendig, um einen Zugang zum göttlichen Willen zu ermöglichen.
Die Bahá’í-Gottheit ist also allgegenwärtig, aber epistemisch entzogen – sie kann gedacht, aber nicht erkannt werden. Ein Konzept, das intellektuell elegant, aber spirituell auch frustrierend wirken kann: eine Leerstelle mit metaphysischem Anspruch.
Hinweise auf Gottes Existenz aus Sicht des Bahaitums
Die Bahá’í-Theologie verweist auf klassische Gottesbeweise, wie man sie aus anderen Religionen kennt – jedoch mit einem modernen Ton.
Die Ordnung der Natur (kosmologischer Gottesbeweis), die moralische Intuition des Menschen (moralischer Gottesbeweis), die Einheit der Schöpfung und die Wirkung der „Manifestationen Gottes“ gelten als indirekte Beweise für eine göttliche Quelle.
Die Bahá’í-Schriften betonen, dass Gottes Existenz nicht durch rationale Beweise erfasst, sondern durch geistige Einsicht, Gebet und gelebte Ethik erfahren werden könne. Gott zeigt sich also nicht in Wundern oder Dogmen, sondern in der inneren Verwandlung des Menschen.
Für Skeptiker bleibt das natürlich vage – ein Glaube, der sich jeder Überprüfung entzieht, aber dennoch auf allgemeingültige Autorität pocht. Ein klassisches Dilemma aller Offenbarungsreligionen – nur in sanfter Sprache verpackt.
Der Bahá’í-Glaube und seine Schriften: der „Kitáb-i-Aqdas“ und andere Texte
Das wichtigste heilige Buch der Bahá’í ist der Kitáb-i-Aqdas („Das Heiligste Buch“), in dem Bahá’u’lláh die Grundzüge von Ethik, Sozialordnung und Religionspraxis niederlegt.
Weitere zentrale Texte stammen von Abdu’l-Bahá und Shoghi Effendi, die als autorisierte Ausleger gelten.

Die Schriften sind eine Mischung aus spiritueller Anleitung, rechtlicher Regelung und moralischer Reflexion.
Dabei fällt auf: Trotz des universellen Anspruchs enthält der Kitáb-i-Aqdas auch archaisch anmutende Vorschriften, etwa zur Ehe, zur Homosexualität, zum Alkoholverbot oder zur Bestrafung bestimmter Vergehen – was Fragen nach Modernität und Zeitlosigkeit aufwirft.
Bahai-Online-Bibliothek
Eine Online-Bibliothek mit digitalisierten Bahai-Schriften findest du hier.
Verherrlicht ist Er, vor dem alle Bewohner der Erde und des Himmels in Anbetung sich beugen, an den alle Menschen flehend sich wenden. Er ist es, der das gewaltige Reich alles Erschaffenen in Seinem Griff hält; zu Ihm kehren alle zurück. Er ist es, der offenbart, was Er will; auf Sein Gebot »Sei!« sind alle Dinge geworden.
Ein Sendschreiben an »Ihn, der offenbar werden wird«
Die Rolle von Bahá’u’lláh und Abdu’l-Bahá
Bahá’u’lláh ist der Stifter des Bahaitums und gilt als „Manifestation Gottes“ für das heutige Zeitalter. Seine Stellung ist der von Jesus oder Mohammed vergleichbar – allerdings in einem Kontext, der bewusst auf Versöhnung statt Abgrenzung setzt.

Sein Sohn, Abdu’l-Bahá, führte die Gemeinde nach seinem Tod weiter und formulierte viele zentrale Auslegungen, die bis heute gültig sind. Beide Figuren gelten nicht nur als spirituelle Lehrer, sondern auch als ethische Vorbilder.

Die starke Betonung ihrer Autorität wirft allerdings auch die Frage auf, wie offen eine Religion sein kann, die geistige Führung faktisch monopolisiert.
Bahaitum und die Gesellschaft: Ethik, Menschenrechte und Globalismus
Das Bahaitum betont die Verantwortung des Einzelnen für die Gesellschaft – und propagiert ein harmonisches Zusammenleben aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion oder Geschlecht. Es spricht sich gegen Rassismus, Nationalismus und religiöse Intoleranz aus.
Der Fokus liegt auf Bildung, Nachhaltigkeit und globaler Kooperation. Der Bahá’í-Glaube versteht sich als konstruktive Kraft im Dialog zwischen Religion und Moderne.

Der interreligiöse Dialog im Bahaitum
Im Bahaitum wird interreligiöser Dialog nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert. Der Glaube an eine gemeinsame göttliche Quelle macht Abgrenzung zweitrangig.
Bahá’í-Gemeinden arbeiten weltweit mit anderen religiösen Gruppen zusammen, setzen sich für religiöse Toleranz und Kooperation ein – besonders in Ländern, wo religiöser Pluralismus bedroht ist.
Dabei versteht sich das Bahaitum nicht als bloßer Zuschauer, sondern als aktiver Vermittler. Der Preis dieser Harmonieorientierung ist jedoch, dass oft wenig Kritik an den problematischen Aspekten anderer Religionen geübt wird – aus Rücksicht oder diplomatischer Vorsicht.

Moderne Kritik am Bahaitum
Einige Textstellen aus den Bahāʾī-Schriften sind aus heutiger Sicht problematisch – besonders im Hinblick auf Gleichberechtigung, Homosexualität und gesellschaftliche Hierarchien.
Obwohl sich die Bahāʾī-Gemeinschaft als modern, weltoffen und menschenrechtsfreundlich darstellt, offenbaren zentrale Quellen durchaus konservative, teilweise autoritäre und aus heutiger Perspektive rückständige Auffassungen. Hier einige Beispiele:
Verbot gleichgeschlechtlicher Beziehungen
Im „Kitáb-i-Aqdas“, dem zentralen Gesetzbuch der Bahāʾī, wird Homosexualität als „widerwärtig“ beschrieben.
Zwar ist die Formulierung relativ knapp, aber unmissverständlich. In einem Brief des Universalen Hauses der Gerechtigkeit – der höchsten Bahāʾī-Instanz – heißt es ergänzend:
„Homosexualität ist geistig und moralisch verwerflich. […] Ein Bahāʾī, der homosexuelle Neigungen hat, sollte diese unterdrücken und sich an die göttlichen Gebote halten.“
(Brief des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, 1993)
Diese Haltung widerspricht heutigen Vorstellungen von sexueller Vielfalt und Selbstbestimmung deutlich. Auch wenn die Bahai eine gewaltfreie, „liebevolle“ Haltung betonen, bleibt die dogmatische Ablehnung gleichgeschlechtlicher Liebe bestehen – inklusive des Appells zur Selbstverleugnung.
Hierarchisierung der Geschlechter
Obwohl die Bahai-Gemeinde offiziell für „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ eintritt, wird Frauen bis heute der Zugang zum höchsten Führungsgremium – dem „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ – verwehrt.
Eine Begründung für dieses Dogma bleibt nebulös, es sei „ein Geheimnis, das in der Zukunft offenbart werde“. Ein klassischer theologischer Taschenspielertrick zur Immunisierung gegen Kritik.
Strafandrohungen und religiöse Kontrolle
Im „Kitáb-i-Aqdas“ finden sich auch Bestimmungen, die an eine theokratische Moralordnung erinnern:
„Wer Ehebruch begeht, soll mit einer Geldstrafe belegt werden, die sich bei Wiederholung verdoppelt. […] Wer einen anderen verleumdet, soll mit einem Bußgeld bestraft werden.“
(Kitáb-i-Aqdas, Verse 49–52)
Solche Regelungen offenbaren eine autoritäre Moralpolitik, die mit liberaler Ethik kaum vereinbar ist. Die Vorstellung, dass ein religiöser Kodex bis ins Intimleben der Menschen reicht, widerspricht dem Ideal individueller Autonomie und der Trennung von Religion und Recht.
Absolutheitsanspruch
Bahāʾuʾllāh schreibt in einem zentralen Text:
„Was aus Meinem Mund hervorgeht, ist die Wahrheit. Wer sich davon abwendet, ist wahrlich unter den Toten gezählt.“
(Bahāʾuʾllāh, „Verborgene Worte“)
Diese Rhetorik des alleinigen Zugangs zur Wahrheit widerspricht dem postulierten „interreligiösen Dialog“, den die Bahāʾī nach außen hin betonen. Statt echter Pluralität wird hier religiöse Selbstüberhöhung sichtbar – nur eben in sanftem Ton.
Was macht das Bahaitum einzigartig in der heutigen Welt?
Das Bahaitum ist eine Religion des Ausgleichs – und des globalen Denkens. Es vereint spirituelle Tiefe mit ethischem Engagement, religiöse Tradition mit Modernität. In einer Welt der Spaltung bietet es ein Modell für religiösen Pluralismus ohne Relativismus – zumindest in der Theorie.
Aus atheistischer Sicht bleibt es dennoch eine Religion mit metaphysischen Annahmen, autoritären Strukturen und fragwürdigen Offenbarungsansprüchen. Kritik kann man vor allem an den obenb genannten vier Punkten üben.
Doch im Konzert der Weltanschauungen ist das Bahaitum wohl eine der sanftesten Stimmen (hierin dem Jainismus ähnlich)– und vielleicht gerade deshalb eine, der man in Zeiten religiöser Radikalisierung zuhören sollte.
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