Was sind die Essener Lehren?

Was sind die Essener Lehren?

Die Essener – streng, geheimnisvoll und vielleicht die größten Verlierer der Religionsgeschichte. Kaum eine Glaubensgemeinschaft der Antike wurde mit so vielen Mythen überzogen wie sie: Von asketischen Reinheitsfanatikern bis hin zu geheimen Vorläufern des Christentums reicht das Spektrum der Deutungen. 

Kein Wunder, schließlich haben die Essener selbst keine Stimme hinterlassen – ihre Geschichte lebt nur durch Fremdbeschreibungen und archäologische Spuren.

Gerade diese Mischung aus lückenhafter Überlieferung und spekulativer Projektion macht die Essener zu einem perfekten Nährboden für Legenden.

Die Essener – wer sie waren und was wir wissen

Die Essener sind eine jener religiösen Gruppen der Antike, die trotz ihrer relativen Unbekanntheit eine enorme Faszination ausüben. Sie tauchen am Rand der Geschichtsschreibung auf, verschwinden aber wieder, ohne ein eigenes Zeugnis hinterlassen zu haben. 

Archäologie Bibel
Dieter Viewegers „Archäologie der biblischen Welt“ ist das Grundlagenwerk über archäologische Entdeckungen Palästinas [Anzeige]

Gerade dieses Schweigen hat Platz für Projektionen und Spekulationen geschaffen: Waren die Essener etwa strenge Asketen? Oder so eine Art Proto-Christentum? Sehen wir uns zunächst die Quellen an.

Quellenlage: Josephus, Philo und Plinius

Unser Wissen über die Essener beruht ausschließlich auf Fremdbeschreibungen. Eigene Aufzeichnungen hinterließen uns die Essener nicht.

Der jüdische Historiker Flavius Josephus (den wir auch als den angeblichen Autor der berühmten Jesus-Erwähnung Testimonium Flavianum kennen) schildert sie als besonders fromme, abgeschottete Gemeinschaft. 

Auch der Philosoph Philo von Alexandria und der römische Gelehrte Plinius der Ältere erwähnen sie. Gemeinsam zeichnen diese Autoren das Bild einer sektenartigen Gruppe, die abseits des Alltagslebens lebte und sich strengen Regeln unterwarf.

Den historischen Kontext kennen wir von Flavius Josephus (37/38–100), der allerdings erst nach Jesus Tod geboren wurde [Klicke auf die Cover | Anzeige]

Archäologische Hinweise aus Qumran

Seit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer in den Höhlen von Qumran wurde diese Siedlung vielfach mit den Essenern identifiziert.

Textgeschichte Bibel Qumran
Auszug aus den Qumran-Rollen

Archäologische Funde wie rituelle Bäder, Gemeinschaftsräume und Essensreste passen zu den antiken Beschreibungen einer asketischen und reinheitsbesessenen Lebensweise. Ob die Qumran-Sekte jedoch tatsächlich identisch mit den Essenern war, ist bis heute umstritten.

Was beinhalten die Essener Lehren?

Bevor wir uns der Theologie der Essener Lehren zuwenden, sehen wir uns an, was ihren Tagesablauf ausmachte. 

Die Essener legten großen Wert auf rituelle Reinheit. Tägliche Waschungen, gemeinsames Gebet und ein streng regulierter Tagesablauf bestimmten das Leben. 

Sexualität war bei vielen Essenergruppen verpönt, in einigen Untergruppen sogar vollständig untersagt. Dieses asketische Leben sollte sie Gott näherbringen und von der „verderbten Welt“ absondern.

Privateigentum galt den Essenern als Wurzel der Ungerechtigkeit. Alles, was ein Mitglied besaß, wurde in den Besitz der Gemeinschaft überführt. Damit stellten sie ein radikales Gegenmodell zur individualistischen Gesellschaft ihrer Zeit dar. Zugleich lebten sie bewusst zurückgezogen – eine Trennung, die an frühe klösterliche Bewegungen erinnert.

Theologie der Essener

Die Essener bekannten sich eindeutig zum Gott Israels, den auch Judentum und später Christentum verehren: Jahwe. Ihr Gott war derselbe wie der des Tempels in Jerusalem, auch wenn sie dessen Priesterschaft ablehnten. Sie suchten das Heil durch strikte Gesetzestreue, Reinheit und apokalyptische Erwartung.

Ihre Theologie war jedoch strenger dualistisch gefärbt als die des rabbinischen Judentums: Die Welt war für sie ein Schlachtfeld zwischen den „Söhnen des Lichts“ und den „Söhnen der Finsternis“. 

Reinheit, strikte Einhaltung des Gesetzes und Absonderung von der „verdorbenen Welt“ waren daher nicht nur soziale Regeln, sondern theologische Pflicht. Ihr Gottesbild war von Furcht und Ehrfurcht geprägt – ein Gott, der zwar Gerechtigkeit übt, aber seine Gnade nur den Erwählten zuteilwerden lässt. 

Damit wirkte ihre Religion wie ein Vorläufer späterer apokalyptischer Bewegungen, die im Kampf zwischen Gut und Böse das endgültige Heil erwarteten.

Jahwe, der biblische Gott: Ein Porträt
Dieses Buch zeichnet ein Porträt des biblischen Gottes, der in einer beispiellosen „Karriere“ von der Gottheit eines politisch unbedeutenden Volkes am östlichen Rand des Mittelmeers zum monotheistischen Gott der westlichen Kultur aufgestiegen ist.
[Anzeige]

Die Essener erwarteten einen Messias

Zentral für die Essener war die Erwartung einer endzeitlichen Wende. Sie sahen sich selbst als die „Söhne des Lichts“. Ein Messias – oder sogar zwei: ein priesterlicher und ein königlicher – sollte diese neue Ära einleiten. 

Diese apokalyptische Haltung knüpft an zeitgenössische Strömungen des Judentums an, geht aber in ihrer Radikalität weiter.

atheistische Memes
Der erwartete Weltuntergang ist zentraler Inhalt apokalyptischer Religionen. Siehe auch: Eschatologie.

Die Essener und die Schriftrollen vom Toten Meer (Qumranrollen)

Die Schriftrollen vom Toten Meer, die seit 1947 ans Licht kamen, enthalten biblische Texte, aber auch apokalyptische Schriften und Gemeinderegeln. 

Vieles davon passt zu den Beschreibungen der Essener, weshalb viele Forscher von einer direkten Verbindung ausgehen. Die Qumranrollen gelten heute als die wichtigste Quelle, um die Denkweise dieser Gruppierungen zu verstehen.

Verbindungen zwischen Essenern und Urchristentum

Bemerkenswert ist, dass die Qumrantexte viele Inhalte der hebräischen Bibel wiedergeben, aber zugleich eigene Akzente setzen. 

Besonders die Betonung von Reinheit, Gemeinschaft und Endzeit unterscheidet sie vom späteren rabbinischen Judentum. Manche ihrer Formulierungen erinnern zudem stark an spätere christliche Vorstellungen.

/buch qumarn

War Johannes der Täufer ein Essener?

Immer wieder wird spekuliert, Johannes der Täufer könne aus einem essenerähnlichen Umfeld stammen. Seine Askese, seine Wassertaufen und seine Endzeiterwartung wirken in der Tat essenernah. 

Beweise gibt es allerdings nicht – und manche Unterschiede, etwa Johannes’ Wirken in der Öffentlichkeit, sprechen gegen eine direkte Identität.

Parallelen zu Jesu Lehren und Praktiken

Auch bei Jesus finden sich Parallelen: Gemeinschaftseigentum, Kritik an Reichtum und die Erwartung eines kommenden Gottesreichs erinnern an essenerische Gedanken. 

Doch Jesus trat offen auf, während die Essener eher im Verborgenen wirkten. Ob die Parallelen auf direkten Einfluss oder nur auf einen gemeinsamen religiösen Zeitgeist zurückgehen, bleibt ebenfalls offen: Nichts Genaues weiß man nicht. .

Wo enden bei den Essenern die Fakten und wo beginnt Spekulation?

Das Hauptproblem liegt in der Quellenlage: Keine Schrift bezeichnet sich selbst eindeutig als „essenerisch“. Vieles ist Rekonstruktion und Interpretation. Der Versuch, die Essener als Vorläufer des Christentums darzustellen, sagt oft mehr über das Bedürfnis moderner Forscher aus, Brücken zu schlagen, als über die tatsächlichen Verhältnisse.

Was ist der „Brief an die Essäer“ – hat der was mit den Essenern zu tun?

Der sogenannte „Brief an die Essäer“ geistert immer wieder durch esoterische Bücherregale und Internetforen, aber mit den historischen Essenern hat er nichts zu tun. Er tauchte erstmals im 20. Jahrhundert auf, in den Kreisen von Edmond Bordeaux Szekely, einem ungarischen Arzt und Esoteriker.

Szekely behauptete, er habe in alten Archiven eine bisher unbekannte Schrift entdeckt, die angeblich die „wahre Lehre Jesu“ enthalte. Darin tritt Jesus als Vegetarier, Naturmystiker und Freund der Essener auf – ganz im Sinne moderner spiritueller Strömungen.

Schriften der Essener / Das Friedens-Evangelium der Essener: Schriften der Essener
Hier einer der angeblichen Texte der Essener aus der Feder Székelys [Anzeige]

Historisch ist das kompletter Unsinn und reine Erfindung. Weder Josephus noch Philo oder die Qumran-Schriften kennen einen „Brief an die Essäer“. Archäologisch gibt es ebenfalls keinerlei Spur.

Kurz: Der „Brief an die Essäer“ ist ein moderner Fake, kein antikes Dokument – ein Beispiel dafür, wie man eine verschwundene Gemeinschaft für spirituelle Fantasien instrumentalisiert. Die Verklärung aus esoterischen Kreisen als „geheime Hüter des wahren Christentums“ oder als spirituelle Meister zeigen höchstens, wie leicht eine historisch wenig greifbare Gruppe zu einer Projektionsfläche moderner Sehnsüchte werden kann.

Fakt ist: Die Essener stehen für eine verlorene Welt des religiösen Judentums, die anders als das rabbinische Judentum oder das entstehende Christentum keine direkte Fortsetzung fand.

Und gerade deshalb üben sie bis heute Faszination aus: Sie erinnern uns daran, dass Geschichte – und auch die Religionsgeschichte – voller Abzweigungen ist, die in einer Sackgasse enden. Vermeintliche „Geheimlehren“ sind oft nichts weiter sind als religiöse Antworten auf die Krisen ihrer Zeit.

Geschichte der biblischen Welt
Geschichte der biblischen Welt: von den Anfängen der menschlichen Besiedlung bis zum 3. Jahrhundert n. u. Z. [Anzeige]

Du möchtest ab und zu eine Verkündigung? Abonniere hier den Newsletter. 

Entdecke mehr von konfessionen.org

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

×