Bei meiner Seel’ – wenn europäische und US-amerikanische Christen Naturreligionen und Ahnenkulte betrachten, finden sie die Vorstellung bizarr oder gar belustigend, dass Menschen anderer Kulturen an Hausgeister, Familiengeister oder Naturgeister glauben.  

Sie selber glauben aber ohne jegliche Begründbarkeit an einen „Geist“ namens Seele, der sich weder durch Theologie, Philosophie oder Naturwissenschaften beweisen lässt. Die Existenz der Seele wird einfach behauptet. Erstaunlicherweise reicht das vielen Gläubigen.  

Der Begriff „Seele“ ist ein faszinierender Mischmasch aus religiöser Metaphysik, philosophischer Spekulation und alltagssprachlicher Romantik. Wir definieren, was eine Seele alles sein kann, und wenden uns dann der wichtigsten Frage zu: Gibt es eine Seele in dem Sinn, dass „etwas“ den Tod überlebt? 

Gibt es also mit der Seele auch ein Leben nach dem Tod? Gibt es vielleicht sogar Seelenwanderung? Und woraus „besteht“ eine Seele überhaupt? Fragen über Fragen.

Über die Seele
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Was ist mit „Seele“ gemeint?

Das Wort „Seele“ kommt aus dem Althochdeutsch së(u)la. Über das gotische saiwala von stammt es wahrscheinlich von einer urgermanischen Form ab, die saiwalō oder saiwlō lautete.

Einige Linguisten benennen die Bedeutung mit „vom See stammend“, da die altgermanischen Kulte die Seelen der Menschen in Seen vermuteten. Belegt ist das aber nicht abschließend.

Im religiösen Kontext meint „Seele“ meist den (angeblich) unsterblichen Kern des Menschen, der den Tod überlebt und moralisch beurteilbar ist. 

In der Philosophie dagegen ist die Seele ein Prinzip des Lebendigen, manchmal auch nur ein Synonym für Bewusstsein. 

Im Alltagsgebrauch wiederum steht „Seele“ für das emotionale Innenleben, das „Ich“, das fühlt, denkt und leidet. Dabei wird oft nicht klar unterschieden zwischen „Seele“, „Geist“ und „Bewusstsein“. 

Während der „Geist“ eher das rationale Denken meint, ist die „Seele“ emotional und identitätsstiftend besetzt. Das „Bewusstsein“ wiederum ist der erlebte Moment geistiger Anwesenheit. Kurz: Die „Seele“ ist eine Projektionsfläche – nicht unbedingt ein nachweisbares Phänomen.

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Warum glauben Menschen an eine Seele?

Es gibt einige Argumente, die für die Existenz einer Seele sprechen – oder sich zumindest so anfühlen. 

Subjektives Bewusstsein

Das Gefühl eines inneren Erlebens („Qualia“) scheint nicht vollständig auf materielle Prozesse reduzierbar.

Freier Wille

Die Annahme, Entscheidungen seien nicht vollständig determiniert, sondern Ausdruck einer immateriellen Instanz.

Nahtoderfahrungen

Berichte von „außerkörperlichem Erleben“ werden oft als Hinweis auf eine vom Körper getrennte Seele gedeutet.

Persönliche Identität

Das „Ich“-Gefühl trotz ständiger körperlicher und geistiger Veränderung wird als Hinweis auf eine konstante Seele verstanden.

Moralisches Bewusstsein

Einige argumentieren, dass objektive Moral nur mit einer immateriellen, geistigen Natur erklärbar sei.

Religiöse Offenbarungen

Viele Religionen lehren die Existenz einer Seele – für Gläubige gilt das oft als autoritativer Beweis.

Dualistische Intuition

Das intuitive Empfinden vieler Menschen, „mehr als nur ein Körper“ zu sein, wird als Hinweis auf eine Seele interpretiert.

Phänomene wie Déjà-vu oder Wiedergeburtserinnerungen

In esoterischen oder spirituellen Kreisen werden solche Erfahrungen als Seelenindizien gedeutet.

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Seelenvorstellungen in Religionen

Fast alle Religionen, darunter auch die Naturreligionen, beziehen sich auf etwas im Menschen, das man mit dem „westlichen“ Begriff der Seele ungefähr gleichsetzen kann. 

Darunter werden bestimmte Aspekte des Körperlichen und Geistigen, aber auch parapsychologische Phänomene verstanden. 

Seele Meme

Es ist kompliziert, über Seelen zu sprechen, weil es so viele Bedeutungsebenen und Traditionen gibt. 

Manchmal erscheint sie als Vogel, manchmal als Mensch oder Naturkraft. Sie wird zudem als Teilseele, Ich-, Innen- und Außenseele und so weiter gedacht.

Manche Religionen behaupten, die Seele sei Teil des Göttliche, kehre in ihn zurück, fleiße in ihn hinein oder Ähnliches – andere behaupten, sie sei eine „unsterbliche“ Wesenheit, die nicht nur für immer existiere, sondern auch mit der Welt interagieren könne. Oder diese zumindest beobachte.

Seele Meme

Sehen wir uns mal die Vorstellungen der Seele in den Weltreligionen an.

Christentum: unsterbliche Seele und Jenseitsvorstellungen

Das Christentum hat über die Jahrhunderte hinweg eine komplexe Lehre über die Seele und den Aufenthalt im Himmel entwickelt. Wie nicht anders zu erwarten, mit deutlichen inneren Widersprüchen, historischen Bruchlinien und theologischen Spekulationen, die je nach Konfession und Zeit variieren.

Grundsätzlich geht das Christentum – im Unterschied zu vielen frühen Judentumsformen – davon aus, dass der Mensch eine unsterbliche Seele hat, die vom Körper getrennt existieren kann.

Stirbt jemand, geht die Seele des Toten in den Himmel, das Fegefeuer oder die Hölle ein.

Diese Vorstellung ist nicht genuin biblisch. In der Bibel selbst ist die Vorstellung einer unsterblichen Seele nicht eindeutig angelegt: Im Alten Testament ist „nephesch“ (hebräisch für „Seele“) oft gleichbedeutend mit „Leben“, nicht mit einer ewigen, vom Körper losgelösten Substanz.

Dieser Einfluss hat die christliche Anthropologie – also das Menschenbild – tiefgreifend verändert und mit Konzepten angereichert, die ursprünglich nicht im Judentum verwurzelt waren. 

Erst im späteren Judentum und dann im frühen Christentum wurde die Idee der Seelenunsterblichkeit zur gängigen Lehre

Die Lehre gibt dem Tod einen Sinn, ist aber theologisch widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass zugleich eine „Auferstehung des Fleisches“ verkündet wird.

Seele Holzschnitt Mittelalter
Mittelalterlicher Holzschnitt (16. Jahrhundert): Ein Engel nimmt die Seele eines Verstorbenen auf.

Biblischer Kontext: Keine klare Seele

Im Alten Testament ist der Mensch eine Einheit aus Leib und Atem. Das hebräische Wort „nephesch“ meint nicht eine vom Körper getrennte Seele, sondern eher das lebendige Wesen, die Lebenskraft – etwas, das stirbt, wenn der Körper stirbt. 

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Es gibt dort kein Konzept einer ewigen, körperunabhängigen Seele, wie sie später im Christentum auftaucht. Auch im Neuen Testament findet sich dieses Konzept nur angedeutet – etwa bei Paulus, der aber oft apokalyptisch denkt (Auferstehung am Ende der Zeiten), nicht platonisch (ewige Seele im Himmel).

Was passiert mit der Seele nach dem Tod?

Was passiert, wenn ein Christenmensch stirbt? Das ist einigermaßen unklar, das einzig Gesicherte ist: Es beginnt ein theologischer Eiertanz. Es gibt nämlich zwei konkurrierende Modelle.

  1. Unmittelbarer Eintritt der Seele in den Himmel (oder die Hölle)
    Nach dem Tod wird die Seele sofort „gerichtet“ und tritt entweder in den Himmel, das Fegefeuer (katholisch) oder die Hölle ein. Diese Vorstellung ist besonders im Volksglauben populär: Oma stirbt – zack, sie ist bei Opa „im Himmel“. Trostreich, aber theologisch problematisch.
  2. Endgültiges Gericht am Ende der Zeit (Jüngstes Gericht)
    Die klassische Lehre vieler Kirchen besagt, dass die endgültige Bestimmung erst beim Jüngsten Gericht erfolgt – also nach der allgemeinen Auferstehung der Toten. Dann erst wird entschieden, wer ewiges Leben im Himmel (als „neuer Himmel und neue Erde“) bekommt – und wer nicht.

Hinduismus und Buddhismus: Wiedergeburt und Atman

Im Hinduismus gilt die Seele – Atman – als unsterbliche Essenz, die durch viele Leben wandert, bis sie durch Erleuchtung ins Brahman, das göttliche Absolute, eingeht. 

Das Leben endet also nicht mit dem Tod, sondern setzt sich fort, in anderer Form, unter anderen Bedingungen. Die Wiedergeburt ist keine Strafe wie die christliche Hölle, sondern Teil eines kosmischen Lernprozesses. 

Die „Seele“ wandert so lange, bis sie die höchste Erkenntnis erlangt und Erlösung erfährt.

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Der Buddhismus wiederum lehnt eine ewige Seele ab und spricht vom Anatta, der Nicht-Selbst-Lehre. Dennoch existiert dort eine Vorstellung von Wiedergeburtsprozessen, gesteuert durch Karma, das eine Art moralische Energie ohne fixen Träger ist. 

Beide Systeme bieten eine funktionale Erklärung für das Selbst – ohne zwingend eine „Seele“ im westlichen Sinn zu brauchen.

Islam: Die Seele als Prüfstein für das Jenseits

Auch im Islam ist die Nafs (Seele) zentral: Sie wird von Gott erschaffen, getestet und am Jüngsten Tag gerichtet. Die Seele ist moralisch verantwortlich und existiert ewig – entweder im Paradies oder in der Hölle. 

Interessanterweise kennt der Islam auch Zwischenzustände wie das Barzach, eine Art jenseitiger Wartebereich. Die Seele dient hier primär als Träger der göttlichen Prüfung.

Philosophische Perspektiven auf die Seele

Neben den oben genannten Religionen gibt es die Vorstellung einer Seele auch im Jainismus (unvergängliche Seele) oder im Sikhismus. 

Weithin bekannte Beispiele sind auch die Ägyptische und die altgriechische Religion – das Wort psyche steht hier für Hauch oder Atem. Wir denken an Orpheus in der Unterwelt. 

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Platon und die dualistische Trennung von Körper und Geist

Erst Platon (ca. 427–347 v. u. Z.) bringt die Vorstellung einer unsterblichen, immateriellen Seele, die vom Körper verschieden und diesem sogar überlegen ist.

Platon sah die Seele als ewig und göttlich, gefangen im vergänglichen Körper. Der Körper ist das „Grab der Seele“, und wahre Erkenntnis besteht darin, sich aus der Welt der Sinne zu lösen. Im Tod verlässt die Seele den Körper, um in eine höhere, rein geistige Welt zurückzukehren.

Seine berühmte Dreiteilung der Seele (Begierde, Mut, Vernunft) wurde in der abendländischen Tradition lange tradiert – auch wenn sie empirisch fragwürdig ist.

Platon_Unsterblichkeit der Seele
In dem berühmten platonischen Dialog vertritt Phaidon die Ansicht, dass der Körper nur durch die Anwesenheit der Seele lebendig ist, die diesen im Tode verlässt und weiterlebt. [Anzeige]

Aristoteles: Seele als Lebensprinzip

Aristoteles verstand die Seele als Form des Körpers, nicht als eigenständige Substanz. Für Aristoteles war die Seele kein körperloser Geist, der den Körper bewohnt wie ein Mieter eine Wohnung, sondern vielmehr die Form oder das Prinzip des Lebendigen, das den Körper überhaupt erst zum lebendigen Körper macht. 

In seinem Werk De Anima (Über die Seele) beschreibt er die Seele als das, was einem Organismus seine spezifischen Funktionen und Fähigkeiten verleiht: wachsen, wahrnehmen, denken. 

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Dabei unterscheidet er drei Seelenarten: 

  1. die vegetative (für Pflanzen: Wachstum, Ernährung, Fortpflanzung), 
  2. die sensitive (für Tiere: Wahrnehmung und Bewegung) und 
  3. die rationale Seele (nur beim Menschen: Denken und Reflexion). 

Diese Hierarchie zeigt: Die Seele ist keine abtrennbare Substanz, sondern ein Ausdruck der Organisation des Körpers – kein übernatürliches Wesen, sondern biologische Funktionalität

Stirbt der Körper, hört auch die Seele auf – ganz unromantisch. Aristoteles’ Konzept ist damit nicht dualistisch, sondern hylemorphisch: Seele und Körper bilden eine Einheit aus Materie (hyle) und Form (morphē). Ein erfrischend rationales Gegenbild zum platonischen Seelenzauber.

Kirchenväter als Vermittler

Besonders Augustinus (354–430) übernahm viele platonische Ideen in seine Theologie. Für ihn war die Seele der Sitz von Vernunft, Wille und Moral – und sie musste „gereinigt“ werden, um zu Gott zurückzukehren. 

Augustinus trieb die Spaltung zwischen Leib und Seele voran: Der Körper galt als Träger der Begierde, als Quelle der Sünde, während die Seele als göttlich inspiriert und zur Ewigkeit berufen angesehen wurde. 

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Die „Confessiones“ („Bekenntnisse“) des Augustinus auf Deutsch [Anzeige]

Diese anthropologische Spaltung wurde durch die Lehre von der Erbsünde, die sich über den fleischlichen Zeugungsakt verbreitet, zusätzlich verstärkt. Der Körper wurde verdächtig, die Seele wurde zum eigentlich Wichtigen – zum Schlachtfeld der Moral

Später griff Thomas von Aquin (13. Jh.) auf Aristoteles zurück, um eine „rationalere“ Definition der Seele zu geben – als „Form“ des Körpers –, aber der grundlegende Dualismus blieb bestehen: Der Mensch hat einen vergänglichen Körper und eine unsterbliche Seele. Das ist griechisch – nicht jüdisch.

Thomas übernahm zwar Aristoteles’ Idee der Seele als Form des Körpers, aber gleichzeitig betonte er deren Unsterblichkeit und Eigenständigkeit nach dem Tod – ein klarer Bruch mit der ursprünglichen aristotelischen Intention. 

So wurde im Mittelalter der platonische Dualismus zum theologischen Dogma, die Seele zum Transitticket ins Jenseits – und der Körper zum lästigen Gefäß, das man möglichst keusch durchs Leben tragen musste.

In der „Summa theologica“ des Thomas von Aquin (1226-1274) erreicht die mittelalterliche Scholastik ihren Höhepunkt. [Anzeige]

Moderne Philosophie: Qualia, Bewusstsein und Emergenz

In der neueren Philosophie ist die Diskussion über die Seele durch das Nachdenken über Bewusstsein, Subjektivität und Qualia ersetzt worden. 

Gibt es ein „Ich“ hinter den neuronalen Prozessen? Oder ist unser Selbstgefühl bloß ein evolutionäres Produkt kognitiver Prozesse?

Philosophen wie Daniel Dennett oder Thomas Metzinger argumentieren, dass das Ich eine nützliche Illusion sei – und eine immaterielle Seele philosophisch unnötig.

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Neurowissenschaft und Psychologie

Die moderne Hirnforschung sowie die Psychologie sehen keine Anzeichen für eine „Seele“ als eigenständiges Ding. Stattdessen lassen sich alle vermeintlichen Funktionen der Seele mit Gehirntätigkeiten erklären.

Gehirnfunktionen statt Geistwesen

Gedanken, Gefühle, Erinnerungen – alles korreliert mit messbaren neuronalen Prozessen. Wenn bestimmte Hirnareale beschädigt sind, verschwinden Persönlichkeit, Sprache oder Bewusstsein. Eine unabhängige, unzerstörbare Seele findet sich nirgends im MRT.

Bewusstsein als Produkt neuronaler Prozesse

Viele Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass Bewusstsein eine emergente Eigenschaft des Gehirns ist – also eine Qualität, die durch die Komplexität der neuronalen Vernetzung entsteht, aber kein zusätzliches „Ding“ benötigt. 

Damit wird die Idee einer unsterblichen Seele überflüssig: Das Selbst ist ein Produkt, kein Ursprung.

Keine messbare „Seele“ im Gehirn

Trotz intensiver Forschung konnte keine Seele lokalisiert oder nachgewiesen werden. Auch Nahtoderfahrungen lassen sich neurophysiologisch erklären – durch Sauerstoffmangel, DMT-Ausschüttung und kulturelle Prägung. 

Für eine Seele im metaphysischen Sinne gibt es keinen einzigen objektiven Beleg.

Evolutionäre Erklärungen

Warum Seelenvorstellungen entstanden sein könnten

Menschen sind kognitive Agentendetektoren – wir sehen Absichten, wo keine sind: im Wind, im Schatten, in Träumen. Daraus entstehen schnell Konzepte von Geistern, Seelen, Göttern. Dieses Phänomen nennt man „Agent Detection Bias“. Mehr darüber findest du im folgenden Beitrag.

Die Vorstellung eines „Ichs“ außerhalb des Körpers ist eine kognitive Strategie, um komplexe soziale Beziehungen zu ordnen.

In komplexen Gesellschaften ist es entscheidend, dass Individuen sich selbst als Handlungsträger (Akteure mit Absichten, Erinnerungen und Verantwortlichkeit) wahrnehmen – und ebenso andere. 

Diese Fähigkeit zur Intentionalitätszuschreibung (also die Vermutung, dass andere Absichten, Gefühle, Überzeugungen haben) ist Grundlage für Empathie, Kooperation, Moral und Sprache. Um das leisten zu können, muss das Gehirn eine stabile Struktur für dieses „Ich“ erzeugen – als eine Art soziales Betriebssystem.

Das „Ich“ erscheint dadurch wie ein innerer Agent: jemand, der „in mir wohnt“, Entscheidungen trifft, denkt und fühlt. Die Vorstellung, dieses „Ich“ sei vom Körper unabhängig, also eine „Seele“, ergibt sich fast zwangsläufig daraus – sie ist eine mentale Vereinfachung.

Der Glaube an ein Selbst als Überlebensvorteil

Das Bewusstsein eines stabilen Selbst, das sich erinnert, plant und moralisch handelt, ist evolutionär nützlich. Es ermöglicht Verantwortlichkeit, langfristiges Denken und soziale Integration. 

Die Konstruktion dieses Selbst erleichtert nicht nur die Kommunikation mit anderen („Ich wollte, dass du das weißt“), sondern auch die Selbststeuerung: Ich reflektiere über mich, bewerte mein Verhalten, plane meine Zukunft.

Die „Seele“ könnte also schlicht eine biologisch sinnvolle Illusion sein – nicht wahr, aber hilfreich.

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Andreas Kilian zeigt, was Religionsvertreter lauthals bestreiten: Religion ist evolutiv nicht notwendig, aber ein sehr effektives Mittel zu rein biologischen Zwecken. [Anzeige]

Die Seele als kulturelles Meme

Nach Richard Dawkins könnte die Seele auch ein Meme sein – eine kulturelle Idee, die sich deshalb verbreitet hat, weil sie Trost spendet, Hoffnung gibt und Gemeinschaft stiftet. 

Der Glaube an eine Seele ist dann kein Beweis für ihre Existenz – sondern für ihre Anschlussfähigkeit an menschliche Bedürfnisse.

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Seele zwischen Hoffnung, Illusion und Erkenntnis

Die Idee einer unsterblichen Seele ist eine der ältesten und wirkmächtigsten Vorstellungen der Menschheit. Sie spendet Trost, strukturiert Moral und gibt dem Leben einen scheinbaren Sinn jenseits des Todes. 

Doch weder Philosophie noch Naturwissenschaft haben bislang einen notwendigen oder nachweisbaren Grund gefunden, an eine eigenständige Seele zu glauben. 

Weder Philosophie noch Naturwissenschaft haben bislang einen notwendigen oder nachweisbaren Grund gefunden, an eine eigenständige Seele zu glauben.

Was wir „Seele“ nennen, ist wohl eher eine Summe psychischer Funktionen, ein Produkt unseres Gehirns – oder, weniger poetisch: ein Trick der Natur, uns wichtig zu fühlen.

Zwischen spirituellem Wunschdenken und erkenntnistheoretischer Nüchternheit bleibt die Seele das, was sie immer war: ein Spiegel des Menschen, nicht seiner Unsterblichkeit.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Gibt es eine Seele?“

  1. Mir wird von alledem so dumm,
    als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.

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