Am 11. November gedenkt das christliche Abendland traditionell des heiligen Martin von Tours — vor allem seiner Großzügigkeit gegenüber Bedürftigen. Im Mittelpunkt steht die berühmte Mantelteilung: Ein römischer Soldat teilt seinen Mantel mit einem frierenden Bettler, ein Akt der Nächstenliebe, der fast zum Synonym für gelebte Barmherzigkeit geworden ist.
Heute ist der Martinstag ein populäres Volksfest mit Laternenumzügen, Martinsgänsen und Liederrepertoire für Kinder, das den sozialen Kern der Legende in zugängliche Rituale übersetzt.
Die historische Figur des Martin von Tours
Martin wurde um 316 n. Chr. in der römischen Provinz Pannonien (heute mehr oder weniger Ungarn) geboren und diente zunächst als Soldat in der römischen Armee.
Nach einer Bekehrung ließ er sich taufen, trat in das kirchliche Leben ein und wurde schließlich Bischof von Tours.
Seine Biografien schildern ihn als asketisch gesinnten Mann, der Armut predigte und sich stets auf die Seite der Armen stellte. Das ist ein eher ungewöhnlicher Weg für jemanden mit militärischem Hintergrund – und, seien wir ehrlich, auch für hochrangige Vertreter der Kirche.

Der berühmte Mantel und die Legende von der Nächstenliebe
Die populärste Episode seines Lebens erzählt, wie Martin an einem kalten Tag seinen Mantel mit einem Bettler teilte. In der tradierten Version offenbart sich Christus danach dem Soldaten, was dem Tausch eine sakrale Dimension gibt.
Die Mantelgeschichte ist so simpel wie wirkungsvoll: ein Bild für tätige Barmherzigkeit, das Generationen von Predigern und Erziehern als anschauliches Vorbild diente.

Quellenlage: Was ist historisch, was Legende?
Die bekannteste Quelle ist die Vita des Sulpicius Severus, geschrieben einige Jahrzehnte nach Martins Tod. Sie mischt historische Fragmente mit Wundererzählungen und moralischen Lehrstücken. Historiker warnen daher vor einer Überidentifikation von Text und Fakt — vieles, was wir als „Martin“ kennen, ist literarisch überhöht und dient eher der Vorbildfunktion als der biografischen Genauigkeit.

Entstehung des Martinstages als Gedenktag
Der Martinstag wurde früh als Gedenktag begangen: Liturgisch markiert er das Ende der Erntezeit und ist im Kirchenkalender als Fest für einen praktischen Heiligen verankert.
Martin wurde zum regionalen Schutzpatron, seine Vita diente der Kirche als Vorbild für christliche Wohltätigkeit im Alltag. Hierbei sprechen wir vorrangig von der katholischen Kirche. Die evangelischen oder protestantischen Konfessionen, denen die Heiligenverehrung fremd ist, feiern den Martinstag am 11. November zwar auch, allerdings ist dieser Tag nicht offiziell Teil des evangelischen Kirchenjahres.
Zudem hat er teils andere Bedeutung: In einigen protestantischen Regionen wird anstelle von St. Martin auch der Reformator Martin Luther gewürdigt, der am 10. November 1483 getauft wurde und nach dem Heiligen benannt wurde.

Der 11. November im liturgischen Kalender
Das Datum 11. November entspricht dem Tag seines angeblichen Todes; wie bei vielen Heiligenfesten ist der Todestag als „Geburt in den Himmel“ gedeutet worden.
Liturgisch ist der Tag weniger opulent als die großen Festzeiten, aber lokal bedeutend — besonders in Frankreich, dem Rheinland und Teilen Norddeutschlands.

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Verbindung zu vorchristlichen Bräuchen und Erntedankfesten
Wie viele Heiligenfeste sitzt auch St. Martin auf älteren, vorchristlichen Festachsen: Erntedank, das Ende der Feldarbeit und das Herstellen von Vorräten fallen in dieselbe Zeit.
Die Kirche christianisierte diese Festlichkeiten, indem sie ihnen einen Heiligen zuordnete — ein übliches Muster der religiösen Aneignung und Transformation.
Traditionen und Bräuche: Martinsumzüge, Laternen und Martinsgänse
Das sichtbare Herzstück moderner Martinskultur sind Laternenumzüge der Kitas und Schulen, begleitet von Martinsliedern und einer verkleideten „Martin“-Figur.
Traditionell gehörte auch das Martinsgans-Essen dazu: Gänse als herbstliches Festmahl — oft erklärt als Erinnerung an die Gans, die Martin verraten haben soll, weil sie im Gänsestall quakte, als er sich dort der Legende nach versteckte, als man ihm zum Bischof ernennen wollte. Martin wollte diese Verantwortung nicht tragen, wurde dann aber von dem Geschnatter „ausgeliefert“.
Regionale Unterschiede in Deutschland und Europa
In Mitteleuropa variieren Bräuche stark: In manchen Regionen gibt es große Reitprozessionen mit Bischofsoutfit, anderswo bleiben Laternenumzüge und Gemeindefeiern zentral. Frankreich und die Niederlande pflegen eigene Varianten, die lokale Sitten und kulinarische Eigenheiten einbeziehen.
Vom Heiligenfest zum Kinderbrauch
Aus einem liturgischen Gedenktag wurde über die Jahrhunderte zunehmend ein volkstümliches Fest, das sich vor allem an Familien und Schulen richtet. Die ursprüngliche religiöse Deutung verwässerte oft in populären Formen: Der Heilige wird zur folkloristischen Figur, die pädagogisch nutzbar ist.
Trotzdem springt die Kirche natürlich nur allzugern auf die Mär von der christlichen Nächstenliebe auf, für die – so das Narrativ – der „heilige“ Mann ein leuchtendes Beispiel sei. Dass der Überlieferung nach Martin erst nach der legendären Mantelteilung überhaupt getauft worden sein soll, spielt dabei natürlich keine Rolle. Zum Schluss wird Martin noch durch eine Vision geadelt, in welcher Jesus höchstpersönlich dem Wohltäter im Traum erscheint. Mit Überhöhung kennen sich die Kirchen nunmal aus.
„St. Martin wird gefeiert, um Kindern den Sinn der christlichen Nächstenliebe zu zeigen. Der Tag erinnert an Martin von Tours, der einem frierenden Bettler die Hälfte seines Mantels geschenkt hat. (…) Diese Szene symbolisiert gelebte, christliche Nächstenliebe. (…) Danach war der junge, noch ungetaufte Soldat Martin an einem kalten Wintertag gerade dabei, durch das Stadttor der nordfranzösischen Stadt Amiens zu reiten. (…) In der darauffolgenden Nacht soll ihm Jesus erschienen sein und ihm für seine gute Tat gedankt haben.“
Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Quelle)
Säkularisierung und Volkskultur
Mit der Säkularisierung des öffentlichen Raums wurde St. Martin progressiv entschärft: Viele Kindergärten verzichten heute bewusst auf explizit kirchliche Elemente und setzen auf allgemeine Wertevermittlung — Licht gegen Dunkel, Teilen statt Horten.
Natürlich wird hier gleich wieder gejammert und der Untergang des Abendlandes befürchtet.
Warum viele Kindergärten und Schulen heute auf christliche Bezüge verzichten
In pluralen Bildungseinrichtungen wird der Martinstag zunehmend als kulturelles, nicht konfessionelles Ereignis gefeiert. Das vermeidet die Ausgrenzung von nicht-christlichen Kindern, und die werden (anteilig) immer mehr.
Denn die Anzahl der Menschen, die sich zu einer Konfession bekennen, sinkt in Deutschland unaufhaltsam. Die Gläubigen sterben weg, es kommen immer weniger neue nach („Taufdefizit“) und die zahlreichen Missbrauchsskandale verschrecken auch die treuesten Anhänger*innen.

Ich sehe diese Entwicklung daher weniger als eine verlorene Gelegenheit, die religiösen Hintergründe zu indoktrinieren, äh, zu erläutern. Ich sehe das pragmatisch: ein Fest als Gelegenheit für Werteerziehung – gemeinsames Basteln, Licht als Metapher für Solidarität und Hilfsbereitschaft.
Das geht auch ganz ohne sakrale Symbolik. Man behält das soziale und ethische Moment, ohne Glaubensvorgaben zu reproduzieren.
Martin zwischen Lichtsymbolik und Legende
Unabhängig von historischen Details bleibt die Kernbotschaft der Martin-Legende relevant: Teilen als konkrete, praktische Form der Solidarität.
In einer Gesellschaft, die soziale Ungleichheit toleriert, ist das Teilen nicht nur symbolisch, sondern politisch. Die Mantelgeschichte funktioniert heute als pädagogisches Werkzeug — wenn sie nicht zur kitschigen Folklore verkommt.
Was St. Martin über Mitgefühl und Menschlichkeit lehrt
Ob Legende oder historische Person — die Figur des Martin bietet eine einfache, greifbare Moral: Die Welt verbessert sich nicht durch große Worte, sondern durch kleine Taten.
Wenn Laternen auf die Straße getragen werden, kann das ein Moment der Gemeinschaft sein; wenn der Mantel tatsächlich geteilt wird, ist das schlicht menschenfreundlich. Mehr braucht es oft nicht.
Falls ihr euch mit den christlichen Feiertagen schwertut, empfehle ich euch diese beiden Bücher. Sie bieten einen guten Überblick. [Anzeige]
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