Das Thomas-Evangelium

Thomas-Evangelium: das „gnostische Testament“

Das Thomas-Evangelium zählt zu den rätselhaftesten Texten der frühchristlichen Literatur. Entdeckt in der Mitte des 20. Jahrhunderts nahe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi, hat es sowohl unter Gelehrten als auch in der breiteren Öffentlichkeit großes Interesse geweckt. 

Anders als die vier kanonischen Evangelien des Neuen Testaments präsentiert das Thomas-Evangelium eine Sammlung von 114 „Logien“ oder Aussprüchen, die Jesus zugeschrieben werden – ohne erzählerische Elemente wie Wunderberichte oder die Passion Christi

Was sind Logien?

„Logien“ (Einzahl: Logion) leitet sich vom griechischen logos („Wort“) ab und meint in der Theologie Äußerungen, die schriftlich in Texten überliefert sind. Es handelt sich also bei den Logien des Thomas-Evangeliums um die „Worte Jesu“. Siehe dazu auch unseren Artikel über die sogenannte Logienquelle Q.

Die Logien (auch Jesusworte oder Herrenworte genannt) machen das Thomas-Evangelium zu einem Schlüsseldokument für das Verständnis frühchristlicher Glaubensrichtungen. Zudem bietet es mit seinen teils immer noch rätselhaften Lehren Einblicke in spirituelle Praktiken der frühen Christen.

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Thomas-Evangelium: Entdeckung und historischer Kontext einer besonderen Apokryphe

Das Thomas-Evangelium ist eine sogenannter Apokryphe – also eine außerkanonische Schrift. Als „Kanon“ bezeichnet man diejenigen Texte, die als Bestandteile der Bibel festgelegt wurden. Diese Kanonisierung war etwa im Jahr 400 n. u. Z. beendet.

Das Thomas-Evangelium gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Entdeckungen im Bereich der christlichen Apokryphen; es wirft Licht auf die vielschichtige Landschaft des frühen Christentums. 

Gefunden im Jahr 1945 nahe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi, repräsentiert es eine Sammlung von 114 Logien oder Aussprüchen Jesu, die von der traditionellen Erzählstruktur der kanonischen Evangelien abweicht. Dieses einzigartige Dokument bietet nicht nur einen tiefen Einblick in gnostische Überzeugungen. 

Was heißt Gnosis nochmal?

Als „Gnosis“ und „Gnostiker“ bezeichnet man eine Reihe theologischer Gruppierungen und Ansichten des 2. und 3. Jahrhunderts, die im Widerspruch zu den Lehrmeinungen der sogenannten „Alten Kirche“ beziehungsweise „Frühen Kirche“ stand. 

Im Zentrum der Gnosis (gr. gnosis = Erkenntnis, Wissen) steht die Erkenntnis des Menschen über sein Schicksal und die Trennung einer guten (göttlichen) Sphäre von der bösen Sphäre eines „Demiurgen“. Der Demiurg ist eine Art „Schöpfergott“, der die materielle Welt erschaffen hat, aber nicht identisch mit dem „guten“ transzendenten und verborgenen Gott ist. Einige gnostische Denker behaupteten, Jesus sei nicht der Sohn des Demiurgen – der meist mit Jahwe identifiziert wird, sondern des verborgenen Über-Gottes.

Gott ist verborgen
Der verborgene Gott ist in der Gnosis nicht mit „Jahwe“ identisch

Der historische Kontext des Thomas-Evangeliums, seine Entstehung, seine Datierung und die Umstände seiner Veröffentlichung sind wichtig, um die komplexe Geschichte des frühen Christentums und die Entwicklung seiner heiligen Schriften zu verstehen. Das Thomas-Evangelium steht seit seiner Entdeckung im Zentrum einer lebhaften Debatte über Authentizität, Herkunft und Einfluss gnostischer Texte auf das Christentum.

Die Entdeckung der Thomas-Texte in Nag Hammadi

Die Entdeckung des Thomas-Evangeliums fand im Jahr 1945 nahe der Stadt Nag Hammadi in Oberägypten statt, als eine Gruppe von Bauern beim Graben für Düngemittel zufällig auf einen versiegelten Tonkrug stieß.

Dieser Krug enthielt 13 Papyrus-Codices, die eine Sammlung von insgesamt 52 religiösen und philosophischen Texten umfassten, die aus dem frühen Christentum stammen. 

Unter diesen Schriften befand sich auch das Thomas-Evangelium, das aufgrund seiner einzigartigen Form und seines Inhalts schnell das Interesse der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf sich zog.

Die Texte von Nag Hammadi, einschließlich des Thomas-Evangeliums, werden der gnostischen Tradition zugeordnet, einer Strömung innerhalb des frühen Christentums, die besonderen Wert auf Erkenntnis (gnosis) und direkte, persönliche Erfahrung des Göttlichen legte (siehe oben).

Weitere Texte in der Nag-Hammadi-Bibliothek sind zum Beispiel:

  • Das Gebet des Apostels Paulus
  • Das Apokryphon des Jakobus
  • Das Evangelium der Wahrheit
  • Das dreiteilige Traktat
  • Das Philippusevangelium
  • Die Hypostase der Archonten
  • Die Exegese über die Seele
  • Das Ägypterevangelium
  • Die Apokalypse des Paulus
  • Der Brief des Petrus an Philippus

Und noch viele weitere: Wie erwähnt sind es 52 Schriften insgesamt.

Datierung und Ursprung des Thomas-Evangeliums

Die Datierung des Thomas-Evangeliums ist unter Wissenschaftlern umstritten, wobei die meisten Schätzungen es in die Mitte des 2. Jahrhunderts n. u. Z. einordnen. 

Einige Forscher argumentieren jedoch aufgrund von sprachlichen und inhaltlichen Überlegungen, dass zumindest einige der enthaltenen Logien möglicherweise bereits im späten 1. Jahrhundert n. u. Z. entstanden sein könnten. Diese frühen Datierungen (ab den Jahren 80–100 n. u. Z.) stützen sich auf Parallelen zwischen den Aussprüchen Jesu im Thomas-Evangelium und jenen in den kanonischen Evangelien sowie auf die Annahme, dass das Thomas-Evangelium auf einer unabhängigen mündlichen Überlieferung basiert. 

Der genaue Ursprung des Textes ist ungeklärt, jedoch wird vermutet, dass er in einem syrisch sprechenden Umfeld innerhalb des östlichen Teils des Römischen Reiches entstanden sein könnte. 

Die theologische Ausrichtung und die spezifische Form der Sammlung legen nahe, dass das Thomas-Evangelium in einer Gemeinschaft entstanden ist, die großen Wert auf die direkte und persönliche Erfahrung der Lehren Jesu legte. Diese müsste dann unabhängig von den institutionellen Strukturen der sich formierenden orthodoxen Kirche gewesen sein.

In welcher Sprache wurde das Thomas-Evangelium verfasst?

Das Thomas-Evangelium wurde ursprünglich vermutlich in Griechisch verfasst, die erhaltenen Manuskripte aus Nag Hammadi sind jedoch in Koptisch.

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Wann wurde das Thomas-Evangelium veröffentlicht?

Das Thomas-Evangelium wurde erstmals in seiner vollständigen Form im Jahr 1959 veröffentlicht. Die Entdeckung der Schrift selbst erfolgte allerdings bereits im Dezember 1945, als Teil einer Sammlung von gnostischen Texten in Nag Hammadi, Ägypten. 

Diese Sammlung, oft als die Nag-Hammadi-Bibliothek bezeichnet, umfasste eine Vielzahl von Texten, die auf Papyrus geschrieben und in 13 ledergebundene Codices zusammengefasst waren.

Thomas-Evangelium_Papyrus
Papyrus mit dem Thomasevangelium

Nach ihrer Entdeckung dauerte es einige Jahre, bis die Bedeutung dieser Texte vollständig erkannt und die Schriften übersetzt wurden. Die Verzögerung war teilweise auf die komplexen Eigentums- und Übersetzungsrechte sowie auf die akademische Sorgfalt zurückzuführen, die erforderlich war, um diese antiken Texte korrekt zu interpretieren und zu veröffentlichen. Hinzu kam, dass die politischen Unruhen in Ägypten und die damit verbundenen administrativen Herausforderungen eine schnelle Veröffentlichung erschwerten.

Die erste englische Übersetzung des Thomas-Evangeliums wurde von den Wissenschaftlern James M. Robinson und Helmut Koester geleitet und als Teil der ersten vollständigen englischen Übersetzung der Nag-Hammadi-Schriften veröffentlicht. Diese Übersetzung machte das Thomas-Evangelium einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und löste eine Welle des Interesses sowohl in der akademischen Welt als auch unter Laien aus.

Die Veröffentlichung des Thomas-Evangeliums markierte einen Wendepunkt in der modernen biblischen und religiösen Studien, da sie neue Perspektiven auf die Ursprünge und die Vielfalt des frühen Christentums eröffnete. Die Schrift führte zu intensiven Debatten über die Natur der frühchristlichen Spiritualität, die Entstehung des Neuen Testaments und die Rolle gnostischer Traditionen in der Geschichte des Christentums.

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Das Thomasevangelium findet sich auch in den sogenannten Oxyrhynchus-Papyri, einer 1896 in einer antiken Mülldeponie aufgefundenen Sammlung von über 400.000 Papyrus-Rollen, die bis heute ausgewertet werden. 

Wann wurde das Thomas-Evangelium erstmals erwähnt?

Das Thomas-Evangelium wurde erstmals im frühen 3. Jahrhundert (um das Jahr 230) von Hippolyt von Rom erwähnt. Neben Hippolyt von Rom erwähnte auch Origenes, ein christlicher Gelehrter des 3. Jahrhunderts, das Thomas-Evangelium. Eusebius von Caesarea, ein Kirchenhistoriker des frühen 4. Jahrhunderts, listete es ebenfalls unter den apokryphen Schriften auf.

Während Hippolyt den Text in Rom lokalisiert, beschreibt Origenes ihn aus Judäa – das zeigt, wie weit verbreitet er damals gewesen sein konnte. 

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Inhalt und Struktur des Thomas-Evangeliums

Das Thomas-Evangelium unterscheidet sich grundlegend von den kanonischen Evangelien des Neuen Testaments. Es besteht aus 114 Logien oder Aussprüchen, die direkt Jesus zugeschrieben werden.

Im Gegensatz zu den narrativen Berichten über das Leben und Wirken Jesu, wie sie in den Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zu finden sind, fehlt im Thomas-Evangelium ein erzählerischer Rahmen. 

Es gibt keine chronologische Abfolge von Ereignissen, keine Beschreibung der Geburt, des Todes oder der Auferstehung Jesu. Stattdessen präsentiert das Evangelium eine Sammlung von Parabeln, Weisheitssprüchen und dialogischen Interaktionen zwischen Jesus und seinen Jüngern, die auf die Vermittlung tieferer spiritueller Wahrheiten abzielen.

Vergleich mit den kanonischen Evangelien

Im Vergleich zu den kanonischen Evangelien zeichnet sich das Thomas-Evangelium durch seine apophthegmatische („sprichwortartigen“) Natur aus, die sich auf kurze, prägnante Aussagen Jesu konzentriert. 

Während die kanonischen Evangelien eine narrative Struktur aufweisen, die das Leben, Leiden, Sterben und die Auferstehung Jesu chronologisch darstellen, fokussiert das Thomas-Evangelium auf die direkte Übermittlung von Jesu Lehren. 

Einige der Aussprüche im Thomas-Evangelium finden Parallelen in den synoptischen Evangelien, allerdings oft in einem anderen Kontext oder mit einer leicht veränderten Botschaft. Das deutet darauf hin, dass diese Texte möglicherweise auf eine gemeinsame mündliche Tradition zurückgehen oder unabhängig voneinander dieselben Überlieferungen interpretieren.

Zentrale Themen und Lehren des Thomas-Evangeliums

Die zentralen Themen und Lehren des Thomas-Evangeliums reflektieren eine starke Betonung auf Selbstkenntnis und die innere Erfahrung des Göttlichen. 

Es vermittelt die Vorstellung, dass das Königreich Gottes nicht als ein äußerlicher Ort oder eine zukünftige Realität zu verstehen ist, sondern innerhalb des Menschen zu finden ist. Viele Logien fordern den Leser oder Hörer dazu auf, über die Oberfläche der Worte hinauszublicken und eine tiefere spirituelle Wahrheit zu erkennen. 

Dieser introspektive und mystische Ansatz unterscheidet sich von den eher historisch und sozial orientierten Darstellungen der kanonischen Evangelien. Das Thomas-Evangelium legt nahe, dass Erlösung durch Erkenntnis (Gnosis) erlangt wird – ein Verständnis, das eng mit gnostischen Traditionen verbunden ist, die in der frühen Christenheit verbreitet waren, aber letztendlich von der orthodoxen Christenlehre abgelehnt wurden. Einigen frühen Kirchenvätern galten sie sogar als Häresie (Ketzerei).

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Theologische und philosophische Bedeutung

Das Thomas-Evangelium bietet einen einzigartigen Einblick in die theologischen und philosophischen Strömungen innerhalb des frühen Christentums, die sich von den dominierenden Erzählsträngen der kanonischen Evangelien unterscheiden. 

Durch seine Sammlung von Jesus zugeschriebenen Logien präsentiert es eine Spiritualität, die stark auf das Innenleben und die direkte Erfahrung des Göttlichen fokussiert. 

Diese Perspektive eröffnet Diskussionen über die Natur der göttlichen Offenbarung, die Bedeutung der Selbstkenntnis und die Rolle des Individuums in der Suche nach spiritueller Wahrheit. 

Das Evangelium betont, dass das Königreich Gottes innerhalb des Menschen zu finden ist, eine Auffassung, die tiefgreifende philosophische Fragen über die Beziehung zwischen Mensch und Göttlichem, die Natur der Realität und die Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis aufwirft.

Gnostizismus und das Thomas-Evangelium

Gnostische Überzeugungen betonen eine fundamentale Kluft zwischen der höchsten Gottheit und der materiellen Welt, die als Werk eines niederen Gottes oder Demiurgen angesehen wird.

Während das Thomas-Evangelium nicht alle explizit gnostischen Doktrinen teilt, spiegelt es doch eine ähnliche Orientierung an innerer Erleuchtung und der Suche nach einem verborgenen Wissen wider, das zur Befreiung von materiellen Bindungen und zur Vereinigung mit dem Göttlichen führt. Die Schrift illustriert die Vielfalt des frühen Christentums und die Existenz von Glaubensrichtungen, die sich von den später als orthodox etablierten Lehren unterschieden.

Einfluss des Thomas-Evangeliums auf die christliche Mystik

Das Thomas-Evangelium hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der christlichen Mystik ausgeübt, insbesondere durch seine Betonung der direkten, persönlichen Erfahrung Gottes. 

Die mystische Tradition innerhalb des Christentums, die in verschiedenen Epochen und Kontexten Gestalt annahm, findet im Thomas-Evangelium wichtige thematische Anknüpfungspunkte. Zu diesen gehören … 

  • die Suche nach einem unmittelbaren Verständnis des Göttlichen jenseits dogmatischer Formulierungen, 
  • die Vorstellung, dass spirituelle Wahrheiten durch Introspektion und innere Erleuchtung entdeckt werden können und 
  • die Überzeugung, dass das Göttliche im innersten Kern des Menschen präsent ist. 

Diese Aspekte haben das Denken zahlreicher christlicher Mystiker beeinflusst und tragen dazu bei, die kontinuierliche Relevanz des Thomas-Evangeliums für spirituelle Suchende innerhalb und außerhalb der traditionellen kirchlichen Strukturen zu unterstreichen.

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Kontroverse und Kanonisierung des Nag-Hammadi-Evangeliums

Das Thomas-Evangelium steht im Zentrum einer tiefgreifenden Kontroverse, die sowohl seine theologische Bedeutung als auch seinen Status innerhalb der christlichen Tradition betrifft. Von der frühen Kirche bis in die moderne Zeit haben Gelehrte und Theologen über die Authentizität und Autorität des Textes debattiert. 

Ein zentraler Punkt dieser Auseinandersetzungen ist die Frage der Kanonisierung. Das Thomas-Evangelium wurde nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen, ein Prozess, der im 4. Jahrhundert größtenteils abgeschlossen war. 

Die Gründe hierfür sind vielschichtig und umfassen theologische, soziale und politische Erwägungen. Die frühe Kirche legte Wert auf Texte, die als apostolisch galten und eine klare narrative Darstellung der Ereignisse im Leben Jesu boten, was im Falle des Thomas-Evangeliums nicht zutraf. Darüber hinaus standen seine gnostischen Elemente im Widerspruch zu den orthodoxen Lehren, die sich schließlich durchsetzten.

Wer schrieb das Thomas-Evangelium?

Die Frage nach dem Autor des Thomas-Evangeliums bleibt bis heute unbeantwortet. Traditionell wird der Text dem Apostel Thomas zugeschrieben, was ihm eine gewisse apostolische Autorität verleihen würde. 

Diese Zuschreibung ist jedoch stark umstritten und wird von vielen modernen Wissenschaftlern in Frage gestellt. Die Forschung deutet darauf hin, dass das Evangelium wahrscheinlich von einem unbekannten Verfasser geschrieben wurde, der sich innerhalb der gnostischen Tradition bewegte. 

Die Sprache und die theologischen Konzepte des Textes legen nahe, dass er in der Mitte bis späten zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts entstanden ist, möglicherweise in Syrien oder Ägypten. Die Anonymität des Autors und die späte Datierung tragen zur kontroversen Stellung des Thomas-Evangeliums in der christlichen Geschichte bei.

wer schrieb die Evangelien?
Wom Autor des Thomas-Evangeliums haben wir ebenso wenig gesicherte Kenntnisse wie von den Autoren der vier kanonisierten Evangelien

Warum ist das Thomas-Evangelium nicht in der Bibel?

Das Thomas-Evangelium ist nicht in der Bibel enthalten, was auf eine Reihe von theologischen, historischen und politischen Gründen zurückzuführen ist, die während der Formationsperiode des christlichen Kanons eine Rolle spielten.

Zunächst ist festzuhalten, dass der Prozess der Kanonbildung im Christentum kompliziert war – er dauerte Jahrhunderte. Dieser Prozess war geprägt von intensiven Debatten darüber, welche Schriften als heilige Schrift gelten sollten. 

Ein Hauptkriterium für die Aufnahme in den Kanon war die apostolische Herkunft einer Schrift, d. h., sie musste direkt auf die Apostel Jesu oder ihre unmittelbaren Schüler zurückgeführt werden können. Obwohl das Thomas-Evangelium dem Apostel Thomas zugeschrieben wird, wurde seine Authentizität und apostolische Herkunft von den Kirchenvätern und den Entscheidungsträgern der frühen Kirche in Frage gestellt.

Das Problem der apostolischen Herkunft findet sich auch bei den kanonisierten Evangelien

Ein weiterer wichtiger Grund ist der inhaltliche Charakter des Thomas-Evangeliums. Es besteht hauptsächlich aus Logien, also Sprüchen Jesu, und enthält keine narrative Darstellung seines Lebens, seiner Wunder, seines Todes und seiner Auferstehung, wie es bei den kanonischen Evangelien der Fall ist.

Dieser Fokus auf die reine Lehre ohne erzählerischen Kontext stand im Widerspruch zu dem, was die frühe Kirche als wesentlich für das Verständnis und die Verkündigung des christlichen Glaubens ansah.

Darüber hinaus reflektiert das Thomas-Evangelium eine gnostische Theologie, die in wesentlichen Punkten von der orthodoxen christlichen Lehre abweicht. Die Gnosis betont die Erlangung eines geheimen Wissens zur Erlösung und sieht die physische Welt als von einem niederen Gott geschaffen an, was im direkten Widerspruch zur biblischen Schöpfungsgeschichte und der Inkarnation Jesu steht. Diese gnostischen Elemente führten dazu, dass das Thomas-Evangelium von der orthodoxen Kirche als häretisch eingestuft wurde.

Schließlich spielten auch politische und soziale Faktoren eine Rolle. Die Festlegung des neutestamentlichen Kanons erfolgte in einem Kontext, in dem die Kirche bestrebt war, Einheit und Autorität zu etablieren. Texte, die als spaltend oder nicht übereinstimmend mit der allgemein akzeptierten Lehre angesehen wurden, wurden ausgeschlossen, um eine kohärente Glaubensgrundlage zu schaffen.

Das Thomas-Evangelium wurde also 

  • aufgrund seiner fraglichen apostolischen Herkunft, 
  • seines inhaltlichen Charakters, 
  • seiner gnostischen Theologie und
  • der politischen Kontexte der Kanonbildung nicht in die Bibel aufgenommen. 

Diese Entscheidungen spiegeln die komplexen Prozesse wider, die die Entstehung des christlichen Schriftkanons geprägt haben.

Moderne Rezeption und Deutungen

Das Wiederauftauchen im 20. Jahrhundert und die anschließende Veröffentlichung und Übersetzung seiner Inhalte zog ein breites Interesse von Theologen, Historikern, Philosophen und Laien nach sich. 

Die moderne Rezeption des Thomas-Evangeliums ist vielfältig. Einige sehen in ihm einen Schlüssel zum Verständnis der ursprünglichen Lehren Jesu, frei von der späteren dogmatischen Entwicklung der Kirche. Andere betrachten es als wichtigen Text für das Studium der Gnosis und der spirituellen Vielfalt des frühen Christentums.

Darüber hinaus hat das Thomas-Evangelium Eingang in die Diskussionen über interreligiösen Dialog und die Suche nach einer universellen Spiritualität gefunden. Trotz seiner umstrittenen Natur oder vielleicht gerade deswegen fasziniert das Thomas-Evangelium weiterhin Menschen, die nach tieferen Einblicken in die spirituellen Wurzeln des Christentums suchen.

Literatur zum Thomas-Evangelium

Die Forschung und Literatur zum Thomas-Evangelium sind umfangreich, und es gibt zahlreiche deutschsprachige Bücher, die sich mit diesem faszinierenden Text aus verschiedenen Perspektiven beschäftigen. Hier sind einige empfehlenswerte Werke:

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