Als Kind hat mir das richtig Angst gemacht: Gott guckt, ob ich sündige. Wenn ja, lande ich beim Jüngsten Gericht in der Hölle, wo ich für immer verbrutzelt und mit glühenden Zangen gekniffen werde.
Davon abgesehen, wie es moralisch zu bewerten ist, einem Kind eine solche Drohkulisse zu präsentieren – die viel spannendere Frage war für mich irgendwann, ob das denn überhaupt stimmt. Ob es sowas wie „Sünden“ überhaupt gibt.
Das müsste sich ja – so mein naiv-kindlicher Gedanke – recht einfach zeigen lassen: Denn wenn es die Sünde so gäbe, wie dies in meiner bayerischen katholischen Pfarrei dargestellt wurde, dann müsste es ja auch eine ganze Menge anderer Dinge geben: den Himmel, die Hölle, die Heiligen, das Jenseits, die Gottesmutter Maria und natürlich „den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist“.
All dies kann ja, so meine noch naivere Annahme, nicht einfach so „in den blauen Himmel“ hineinbehauptet worden sein. Sicherlich gibt es überprüfbare Hinweise darauf und messbare Wirkungen davon.
Heute weiß ich natürlich: Diese Hinweise auf das Übernatürliche gibt es nicht – zumindest keine, die einer kritischen Prüfung standhalten.
Für die Frage nach der Sünde heißt das: Diese hat gar keine naturwissenschaftliche Entsprechung – sie ist eine bloße kulturelle Frage; höchstens vielleicht noch eine ethische Frage.
Denn „Sünde“ bezeichnet im religiösen Kontext Handlungen oder Zustände, die eine transzendente Ordnung verletzen. Glaubt man aber nicht an eine transzendente Ordnung, ergibt die Rede vom „sündigen Verhalten“ gar keinen Sinn – die von den „sündhaften Gedanken“ noch viel weniger, denn ohne Himmelssphäre und ohne einen allwissenden himmlischen Herrscher ist das Konzept des „Gedankenverbrechens“ vollkommen ohne Bedeutung. (Mehr dazu unten im Absatz zu Sünde und Totalitarismus.)
Um die himmlischen Höhen reduziert, bleibt rein sprachlich eine „säkulare“ Sprechweise von der Sünde: Sie ist ein Begriff für moralische Fehlhandlungen, soziale Normverletzungen oder psychologische Schuldgefühle. Diese Bedeutung beschreiben die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch als „in sittlichem Sinn [die] Übertretung des Sittengesetzes“ (Quelle).
Für Religionskritiker ist „Sünde“ damit lediglich ein kirchliches Instrument, das normative Macht ausübt. Von den Schuldmechanismen der Gläubigen, der überirdischen Verantwortung, Reue und Versöhnung, bleibt nichts übrig.

Ursprung des Sündenbegriffs in der Bibel
Sehen wir uns zunächst mal an, wie die Texte der Bibel das Konzept überhaupt aufspannen. Wir gehen chronologisch vor. Natürlich ist vor allem das Konzept der vererbten Sünde wichtig, die wir angeblich von Adam und Eva übernommen haben.
Sünde im Alten Testament
Im Alten Testament tritt „Sünde“ zuerst als Rechtsverletzung, Ungehorsam oder Kultvergehen auf. Adam und Eva im Paradies? Nur bis zur Ursünde. Fehlgeleitetes Verhalten der Menschen und Tiere? Globale Rache kommt per Sintflut.
Oft ist Sünde eingebettet in das Bundeskonzept: Volk Israel hält das Gesetz, Gott gewährt Schutz und Segen; bei Verfehlungen folgen Strafe oder Buße.
Sünde ist hier sozial und ritualisiert: Regelverstöße schaden der Gemeinschaft, nicht nur dem Einzelnen. Opfer, Versöhnungsriten und Gesetzeskodizes sind die kulturellen Techniken, um damit umzugehen.

Sünde im Neuen Testament
Im Neuen Testament verschiebt sich der Akzent. Sünde bleibt Tat und Zustand, wird aber stärker existenziell gedeutet: Die Menschen leben in einer Welt, die von Machtstrukturen und Gebrochenheit geprägt ist; Christus bringt (angeblich) die Möglichkeit der Vergebung und Umkehr.
Paulus entwickelt eine theologische Anthropologie, in der „Sünde“ nicht nur einzelne Verfehlungen, sondern ein systemisches Prinzip ist, das die Menschheit bindet. Inwiefern dies noch mit den Lehren und angeblichen Äußerungen des Nazareners übereinstimmt, ist nochmal eine eigene Frage.
Jedenfalls bildet sich durch die paulinische Deutung aus dem moralischen Begriff ein metaphysischer Begriff heraus: Sünde wird zur magischen Kraft, von der die Menschen erlöst werden müssen.

Theologische Ausdeutungen: die (Erb-)Sünde und ihre Folgen
Augustins Interpretation des Sündenfalls führte zur Lehre von der „Erbsünde“: Die Schuld Adams überträgt sich auf alle Nachkommen, weshalb der Mensch von Natur aus geneigt ist, zu sündigen – und göttliche Gnade braucht.
Diese Doktrin hat mächtige Folgen: Sie rechtfertigt die Notwendigkeit von Kirchenhierarchie, Sakramenten und Disziplin.
Kritiker sehen hier nicht ganz zu Unrecht ein Instrument, das psychische Schuld und soziale Kontrolle stabilisiert und zum Kernprinzip der christlichen Theologie erhebt:
Alle sind schuldig.
Auch Omas und niedliche Kleinkinder.
Auch Babys.
Auch du.

Unterschiedliche Konfessionen, unterschiedliche Sündenlehre
Katholische, orthodoxe und protestantische Traditionen interpretieren Sünde und Erlösung unterschiedlich: Während die katholische Kirche Verfehlung, Schuld und Sakramentenordnung zusammenführt, sehen viele protestantische Strömungen Rechtfertigung allein im Glauben. „Sünde“ ist also theologisch formbar (wie praktisch!) — und wird oft opportun (religions-)politisch eingesetzt.
Sünden in der Kulturgeschichte: Tut Buße!
Flugs baute die katholische Kirche um das Konzept der Sünde ein ganzes Arsenal von Handlungen für den Gläubigen auf und füllte sich bei der „Bedienung“ der Sündenkundschaft fleißig die Taschen.

Mittelalterliche Bußpraxis
Im Mittelalter führte die Sündenlehre zu ausgeprägten Bußpraktiken: Beichte, Ablasshandel, öffentliche Strafen. Das erzeugte eine Kultur der Schuld und Angst, die instrumentell zur Machterhaltung genutzt wurde.
Buße konnte moralisch sinnvoll sein, geriet aber leicht zur Disziplinierung durch kirchliche Autoritäten. Schließlich regte sich so viel Widerstand gegen die Bußpraktiken, insbesondere den Ablasshandel, dass mit der Reformation eines der größten Schismen der Kirchengeschichte hereinbrach.

Einfluss auf Kunst und Literatur
Der Sündenbegriff prägte Kunst und Literatur: Paradiesverlust, Höllenvisionen, Schuldgestalten – von Dantes „Inferno“ bis zu barocken Passionsbildern.
Künstler nutzten die Spannung zwischen Vergehen und Erlösung, um existenzielle Fragen dramatisch auszustellen. Oft verbarg sich jedoch hinter religiöser Moral auch kulturelle Normvermittlung.
Philosophische und ethische Perspektiven auf Sünde
Gläubige wollen uns Atheisten und Agnostikern gerne weismachen, dass es ohne Gottheit keine „objektive“ Moral geben könne und wir deswegen moralisch orientierungslos seien.
Das ist in vielerlei Hinsicht Unfug – angefangen mit den moralisch fragwürdigen (angeblichen) Taten Jahwes selbst bis hin zu der biblischen Duldung von Sklaverei, Körperstrafen bei Kindern, Genitalverstümmelung und Unterdrückung der Frau. Dennoch taucht dieses „Argument“ immer wieder auf.
Moralische Verfehlung ohne Gott?
Sündenkonzepte sind nicht auf Theologie angewiesen: Ethik kann normative Schranken begründen ohne Transzendenz.
Philosophen wie Kant argumentieren, dass Moral autonom und aus Vernunft begründbar ist. Demzufolge braucht es keine göttliche Instanz, um Schuld zu definieren oder Verantwortung einzufordern.
Kant, Nietzsche und die moderne Ethik
Kant verlegte Moral ins Reich der Vernunft und Pflicht; für ihn ist Schuld gebunden an das autonome Gewissen. Nietzsche demontierte hingegen die christliche Schuldkultur als Ressentiment-Produktion. Moderne Ethik integriert Erkenntnisse der Psychologie und Sozialwissenschaften und sucht nach verantwortungsfähigen, nicht-transzendenten Fundierungen moralischen Handelns.

Sünde als Kern totalitärer Kontrolle
Der Begriff der „Sünde“ ist in seiner Struktur einem totalitären Denksystem erstaunlich ähnlich: Er kriminalisiert nicht nur Handlungen, sondern auch Gedanken.
Schon die bloße Begierde, der Zweifel, ja selbst der spontane Impuls kann als moralische Verfehlung gelten. Jesus radikalisierte das Prinzip im Matthäusevangelium („Wer eine Frau begehrlich ansieht, hat schon Ehebruch begangen“), und damit war der Grundstein gelegt für das Konzept des Gedankenverbrechens – Jahrhunderte bevor Orwell diesen Begriff prägte.
Sünde verwandelt das menschliche Innenleben in einen potentiellen Tatort. Wo solche Vorstellungen herrschen, entsteht ein Klima ständiger Selbstüberwachung, in dem Reue zur Pflicht und Gewissen zur Polizei wird.
Religionen, die diesen Mechanismus kultivieren, schaffen keine moralischen Menschen, sondern dressierte Gewissenswesen. Der Unterschied zwischen spiritueller Läuterung und psychischer Kontrolle wird schleichend verwischt – und aus Moral wird Macht. Bezeichnenderweise sind es ja dann auch immer ganz weltliche Kräfte, die diese Macht ausüben wollen.

Wissenschaftliche Betrachtung von Schuld und Sünde
Löst man sich vom theologischen Konzept der Sünde, bleibt die wissenschaftliche Betrachtung. Freilich gibt es keine „empirische“ Erhebung von Sündhaftigkeit, die Geisteswissenschaften bieten uns allerdings einige interessante Ansätze.
Psychologie: Schuldgefühle und Gewissen
Die Psychologie erklärt Schuld als Produkt von Sozialisation, Empathie und kognitiven Bewertungen: Menschen internalisieren Normen, entwickeln Gewissen und empfinden Schuld, wenn sie diese verletzen.
Schuld kann motivieren (Reue, Wiedergutmachung) oder pathologisch werden (Zwang, Depression). Sündenkategorien lassen sich also psychologisch rekonstruieren, ohne auf übernatürliche Erklärungen zurückzugreifen.
Soziologie: Normverletzungen als „Sünde“
Soziologisch betrachtet dient der Sündenbegriff der Kohäsion: Er markiert Grenzen, stabilisiert Ordnung und macht Abweichler sichtbar.
Sünde ist ein sozialer Mechanismus, mit dem Gruppen Identität und Moral durchsetzen. Das erklärt auch, warum Sündenlisten kulturell variieren und sich historisch ändern.


Sünde als Herrschaftsinstrument der Kirche
Historisch wurde Sünde oft politisch instrumentalisiert: Durch Dominanz über Gewissensbildung, durch Bußkulturen und Heilsvermittlung konnte kirchliche Autorität gesellschaftliche Kontrolle ausüben.
Die Erbsündenlehre und der Ablasshandel sind dafür berüchtigte Beispiele. Man muss schon auf beiden Augen blind sein, um die Machttechniken hier nicht zu sehen. Perfide: Kirchen waren immer erpicht darauf, bereits Kinder mit ihrer Ontologie zu „erziehen“ – indoktrinieren wäre der passende Ausdruck.
Wenn Kinder die Schuld- und Sündenkategorien ihres religiös aufgeladenen sozialen Umfelds absorbieren, ist es nur natürlich, dass sie diese zunächst kritiklos übernehmen. Sich später davon zu emanzipieren, ist hingegen schwer und geschieht häufig nur unter sozialem Druck und mit einigen Reibungsverlusten. Das ist wie mit Rotweinflecken: Die gehen auch nur noch ganz schwer raus.
Was bleibt von Moral ohne Transzendenz?
Ohne den theologischen Rahmen bleibt Moral nicht zwangsläufig leer: Empathie, Reziprozität, Menschenrechte und rationale Argumente begründen ethische Pflichten. Moderne Gesellschaften entwickeln Normen durch Diskurs, Recht und Wissenschaft — nicht durch Sakramente. Moral kann also laizistisch fundiert sein, ohne an Tiefe zu verlieren.
Fazit: „Sünde“ ist lediglich soziale Kontrolle
„Sünde“ funktioniert als religiöse Metapher: Sie vermittelt Dringlichkeit, Schuldgefühl und die Idee der Umkehr. Doch als objektive Kategorie ist sie problematisch — weil sie metaphysische Voraussetzungen verlangt, die säkular nicht geteilt werden und sogar unmoralisch oder auch absurd erscheinen.
Als Letztbegründung von Moralität taugt die Theologie nicht, zumal sie nicht demonstrieren kann, dass ihre metaphysischen Behauptungen überhaupt wahr sind. Als Ersatz bieten sich Begriffe wie „Schuld“, „Fehlverhalten“, „Unrecht“ oder „Schaden“ an. Diese sind klarer, empirisch fassbar und besser politisch handhabbar. Moralische Erziehung kann so auf Verantwortung, Empathie und Rechtsstaatlichkeit gegründet werden, ohne transzendente Drohbilder.
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