In religiösen Debatten hört man ja oft das Wort „Exegese“. Was ist damit gemeint und inwiefern lässt sich Exegese beim Alten Testament anwenden?
Das Alte Testament – schnelle Fakten
Das Alte Testament (AT), auch bekannt als Hebräische Bibel, Tanach oder Erstes Testament, ist der erste Teil der christlichen Bibel.
Es umfasst 24 Bücher im jüdischen Kanon, 39 Bücher im protestantischen Kanon, während katholische und orthodoxe Traditionen zusätzliche Schriften enthalten (Deuterokanonische Bücher).
Der Aufbau gliedert sich in
- die Tora (auch „Gesetz“, „Weisung“, „Pentateuch“),
- die Nevi’im (frühe und späte Propheten) und
- die Ketuvim („Schriften“, „Dichtungen“ bzw. „Weisheitsliteratur“).
Seine Entstehung erstreckte sich über etwa 1000 Jahre, von ca. 1200 bis 100 v. Chr., wobei Texte teils mündlich überliefert und später schriftlich fixiert wurden.
In vielerlei Hinsicht ist das AT ein bemerkenswerter und wichtiger Text: Es stellt einen der ersten systematischen schriftlichen Versuche dar, die Fragen nach „dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ zu beantworten.
Es bietet Orientierung in der Kosmologie, der Geschichte des Menschen und bei moralischen Fragen. Auch wenn diese von der modernen Wissenschaft mittlerweile bei Weitem besser erklärt werden, hat dieser frühe Versuch doch hohen literarischen Wert.
Das Alte Testament reiht sich in die erste Klasse antiker religiöser Schriften, die bis heute überliefert sind, ein, wie zum Beispiel die Ägyptische Totenliteratur, das Gilgamesch-Epos, das zoroastrische Avesta, das babylonische Schöpfungsepos Enuma Elisch oder die hinduistischen Veden.

Was ist Exegese?
Exegese bezeichnet die methodische Auslegung und Interpretation von Texten, insbesondere religiöser Schriften. Ziel ist es, die ursprüngliche Bedeutung eines Textes im Kontext seiner Entstehungszeit zu erfassen.
Dies umfasst die Analyse sprachlicher Merkmale, historischer Hintergründe und kultureller Einflüsse.

Das Alte Testament wurde über viele Jahrhunderte hinweg in der Region des antiken Nahen Ostens verfasst, insbesondere in den Gebieten des heutigen Israel, Palästinas und des angrenzenden Mesopotamiens.
Seine Entstehungszeit reicht von etwa dem 10. Jahrhundert v. Chr. (möglicherweise für ältere Texte wie frühe Teile der Tora) bis ins 2. Jahrhundert v. Chr.

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Die Texte wurden in verschiedenen politischen und kulturellen Kontexten geschrieben, von der Königsherrschaft in Israel und Juda über die babylonische Exilzeit bis zur persischen und hellenistischen Herrschaft.
Exegese dient also nicht nur der theologischen Reflexion, sondern auch der historisch-kritischen Auseinandersetzung mit Texten, die über Jahrhunderte hinweg gedeutet und weitergegeben wurden.
Exegese des Alten Testaments
Für die Exegese des Alten Testaments bedeutet dies, historische, sprachliche und kulturelle Kontexte zu berücksichtigen, um den ursprünglichen Sinn der Texte besser zu verstehen.
Dabei stellen sich zentrale Fragen: Wer verfasste das Alte Testament? Wo wurde es geschrieben? Zu welcher Zeit und in welchem historischen Kontext? Wie lassen sich alte Schriften, die in einem völlig anderen Weltbild entstanden sind, heute noch interpretieren?

Diese Fragen sind Voraussetzung für einen differenzierten Zugang zur biblischen Überlieferung. Will man sich mit der Bibel oder grundsätzlicher mit den abrahamitischen Religionen beschäftigen, ist es sehr hilfreich, die Hintergründe der biblischen Schöpfungsgeschichte und anderer Mythen wie dem Turm zu Babel, der Sintflut oder der Landnahme der Israeliten zu kennen.

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Die Rolle der historischen Kritik bei der Exegese des Tanachs
Ein wesentlicher Teil der Exegese des Alten Testaments ist die historische Kritik. Sie untersucht die Entstehungsgeschichte der Texte, ihre Quellen und Autoren.
Zum Beispiel wird der Pentateuch (die fünf Bücher Mose) als Zusammensetzung verschiedener schriftlicher Traditionen betrachtet, wie der sogenannten jahwistischen und priesterlichen Quelle.
Ziel der kritischen Methode ist es, die Textentwicklung und die dahinterliegenden Interessen sichtbar zu machen.
Quellen des Alten Testaments: jahwistische und priesterliche Quelle
Die jahwistische (J) und die priesterliche (P) Quelle gehören zu den Hauptsträngen der Quellensammlung im Pentateuch, der den Kern des Alten Testaments bildet.
Der Jahwist, benannt nach der Bezeichnung „Jahwe“ für Gott, zeichnet sich durch lebendige, anthropomorphe Darstellungen Gottes und narrative Erzählungen aus, die besonders in den frühen Kapiteln von Genesis sichtbar werden. Die J-Quelle ist in Genesis, Exodus, und teilweise in Numeri zu finden.
Die priesterliche Quelle hingegen stammt aus einer späteren Zeit und konzentriert sich auf kultische Vorschriften, Genealogien und theologische Reflexionen über Schöpfung und Bund. Die P-Quelle dominiert in Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und einigen Teilen von Deuteronomium.
Beide Quellen zeigen unterschiedliche Perspektiven, die zusammen ein vielschichtiges Bild biblischer Theologie ergeben.
Kanonisierung des Alten Testaments
Das Alte Testament wurde über einen langen Zeitraum kanonisiert (zusammengestellt). Der Kanonisierungsprozess begann wahrscheinlich im 5. Jahrhundert v. Chr. und war im Wesentlichen im 2. Jahrhundert v. Chr. abgeschlossen, als die hebräische Bibel in der Form vorlag, die wir heute kennen.
Die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, wurde ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria begonnen und war im Wesentlichen bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. abgeschlossen.
Wie viele Bücher hat das AT?
In der jüdischen Tradition besteht der Tanach aus 24 Büchern, in der christlichen sind es deutlich mehr.
Die Zählweise der 24 Bücher ergibt sich aus der Zusammenfassung bestimmter Bücher, die in der christlichen Bibel getrennt sind. Zum Beispiel:
- 1. und 2. Samuel gelten als ein Buch.
- 1. und 2. Könige sowie 1. und 2. Chronik ebenfalls.
- Die zwölf kleinen Propheten (z. B. Hosea, Amos, Obadja) werden als ein einziges Buch gezählt: „Das Buch der Zwölf“.
- Esra und Nehemia werden als ein Buch gezählt.
- Ruth wird manchmal mit Richter kombiniert.
Die christliche Tradition übernahm die Schriften des Tanachs, passte aber die Zählweise und Reihenfolge an:
- Die Bücher wurden nicht mehr nach der jüdischen Ordnung (Tora, Nevi’im, Ketuvim) angeordnet, sondern nach einer neuen Ordnung: Geschichtsbücher, Lehrbücher und Propheten.
- Bücher wie Samuel, Könige, Chronik und die Zwölf Propheten wurden in mehrere Einzelbücher aufgeteilt.
Das bedeutet, dass die christliche Zählweise bei demselben Inhalt auf 39 Bücher kommt (protestantischer Kanon). Im katholischen und orthodoxen Kanon sind es sogar noch einige wenige mehr.
Überlieferung des Alten Testaments
Die ältesten Fragmente des Tanach stammen aus den Qumran-Höhlen (auch als Schriftrollen vom Toten Meer bekannt), die in den 1940er und 1950er Jahren entdeckt wurden.

Diese Fragmente, die zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. datiert werden, enthalten Teile nahezu aller Bücher des Tanach, wobei die Jesajarolle das bekannteste vollständige Exemplar ist. Sie sind die ältesten erhaltenen Handschriften des hebräischen Textes.
Die ersten vollständigen erhaltenen Ausgaben des Tanach stammen aus dem Mittelalter. Zwei besonders wichtige frühe Versionen sind der Codex Leningradensis (um 1008 n. Chr.), der den vollständigen hebräischen Text des Tanach enthält und der Codex Aleppo (um 930 n. Chr.), der ebenfalls einen nahezu vollständigen Text liefert, aber Teile verloren hat. Diese Texte bilden die Grundlage für moderne Ausgaben der hebräischen Bibel.
Literarische Formen im Alten Testament und ihre Bedeutung
Ein weiterer Ansatz der Exegese konzentriert sich auf die literarischen Formen des Alten Testaments.
Ob Gesetzestexte, prophetische Verkündigungen, Weisheitsliteratur oder Psalmen – jede Textgattung hat ihre eigenen Regeln und Zielsetzungen.
Die exegetische Analyse hilft, die Intention der Autoren zu erkennen: Soll der Text eine historische Begebenheit beschreiben oder metaphorisch für eine spirituelle Wahrheit stehen?

Spannungsfelder zwischen Glaube und Wissenschaft
Die Exegese des Alten Testaments ist oft ein Zankapfel zwischen konservativer Theologie und moderner Wissenschaft.
Während fundamentalistische Ansätze auf einer wortwörtlichen Interpretation bestehen, zeigen exegetische Untersuchungen, dass viele Texte eher mythische oder symbolische Charakteristika aufweisen.
Die Schöpfungsgeschichte etwa wird von der überwältigenden Mehrheit der Wissenschaftler als theologische Erzählung verstanden, nicht als historischer Bericht.
Insbesondere Untersuchungen der Genetik machen es unmöglich, dass der biblische Schöpfungsbericht faktisch wahr ist. Gleiches gilt für die „große Flut“: Archäologie und Geologie widerlegen die Erzählung einer globalen Flut, wie sie dort beschrieben wird.

Relevanz für die Gegenwart
Die Exegese des Alten Testaments ist nicht nur eine intellektuelle Übung zum Aufspüren logischer und erzählerischer Widersprüche in der Bibel. Sie hat auch ethische und gesellschaftliche Implikationen.
Texte wie das Buch Hiob werfen zeitlose Fragen nach Leid und Gerechtigkeit auf, während andere Passagen, etwa die Gesetzestexte in Levitikus, heute kritisch hinterfragt werden, etwa in Bezug auf Geschlechterrollen und soziale Normen.

Während die Welt versucht, globale Probleme wie Klimawandel, künstliche Intelligenz und soziale Gerechtigkeit zu lösen, diskutieren wir über Texte, die von einer Bronzezeitkultur stammen und oft widersprüchlich sind.
Diese Schriften wörtlich zu verstehen, führt dazu, dass archaische Moralvorstellungen und unzeitgemäße Werte in moderne Gesellschaften importiert werden.
Anstatt als kulturelles Erbe zu dienen, werden sie so zu Hindernissen für Rationalität, Ethik und wissenschaftlich fundierte Lösungen.

Exegese des Alten Testaments: Fazit
Die Exegese des Alten Testaments bietet einen faszinierenden Blick auf die Entstehung und Bedeutung eines zentralen religiösen Textes für den (religions-)geschichtlich Interessierten.
Sie zeigt, dass das Alte Testament nicht nur ein religiöses Dokument, sondern auch ein Spiegel der Kultur, Politik und Ethik seiner Zeit ist (wie alle Dokumente).
Wer das AT kritisch liest, erkennt die Vielschichtigkeit und den Wandel menschlichen Denkens – und kann es als eine der beeindruckendsten literarischen Leistungen der Menschheitsgeschichte besser einordnen. Und dort gehört sie auch hin: zur Literatur, in das Regal mit Sagen und Fabeln, neben die ganzen anderen Schöpfungsmythen.

Das Alte Testament hingegen als „unfehlbares Wort Gottes“ zu betrachten, wie fundamentalistische Religionsführer und fanatische Apologeten uns weismachen wollen, ist nach einer kritischen Analyse kaum noch möglich.
Es ist absurd, sich mit Schäferweisheiten und Stammesmythen aus der Bronzezeit abzumühen, während wir gleichzeitig Quantencomputer bauen.
Anstatt also einen 3000 Jahre alten, widersprüchlichen Text zur Hand zu nehmen, um moderne moralische Debatten zu „lösen“, sollten wir fundierte Ethik und humanistische Werte weiter entwickeln. Daran kann uns das Alte Testament mit seinen Aufrufen zum Völkermord, zur Versklavung und zur Vertreibung eine mahnende Erinnerung sein.
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